Kognitive Beeinträchtigungen bei Multipler Sklerose: Ein umfassender Überblick

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die neben den typischen körperlichen Symptomen auch neuropsychiatrische Beschwerden wie kognitive Störungen und Fatigue verursachen kann. Diese kognitiven Defizite, die oft als "verborgene Symptome" bezeichnet werden, können einen erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität und die Arbeitsfähigkeit der Betroffenen haben. Dieser Artikel bietet einen umfassenden Überblick über die Ursachen, Epidemiologie, Arten, Diagnose und Behandlung von kognitiven Störungen bei MS.

Einführung

Kognitive Störungen sind ein häufiges und oft übersehenes Symptom der Multiplen Sklerose (MS). Sie können sich in verschiedenen Formen äußern und die Lebensqualität der Betroffenen erheblich beeinträchtigen. Es ist wichtig, diese Störungen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln, um den Verlauf der MS positiv zu beeinflussen und die Arbeitsfähigkeit der Patienten zu erhalten.

Was sind kognitive Funktionen?

Kognition ist ein Sammelbegriff für die höheren geistigen Fähigkeiten des Menschen. Dazu gehören Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Konzentration, die Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten und Schlussfolgerungen zu ziehen.

Arten von Kognitiven Störungen bei MS

Kognitive Störungen bei MS können verschiedene Bereiche der Kognition betreffen. Zu den häufigsten gehören:

  • Verlangsamung der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit: Dies ist oft das erste Anzeichen kognitiver Störungen und sollte als Warnsignal für eine Progression der Erkrankung gesehen werden. Betroffene benötigen mehr Zeit, um Informationen zu verarbeiten und Aufgaben zu erledigen.
  • Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprobleme: Es fällt schwer, die Aufmerksamkeit über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten oder sich auf mehrere Dinge gleichzeitig zu konzentrieren.
  • Beeinträchtigungen der exekutiven Funktionen: Dies betrifft Fähigkeiten wie Multitasking, mentale Flexibilität und Problemlösung. Betroffene haben Schwierigkeiten, Aufgaben zu planen, zu organisieren und durchzuführen.
  • Gedächtnisstörungen: Vor allem das Kurzzeitgedächtnis ist häufig betroffen. Betroffene haben Schwierigkeiten, sich neue Informationen zu merken oder sich an kürzlich Erlebtes zu erinnern.
  • Visuell-räumliche Probleme: Schwierigkeiten bei der räumlichen Orientierung oder der Wahrnehmung von Bildern und Formen.

Epidemiologie: Wer ist betroffen?

Kognitive Störungen treten bei allen Verlaufsformen der MS in unterschiedlichem Ausmaß auf. Studien haben gezeigt, dass:

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  • 27,3 % der Patienten mit einem klinisch isolierten Syndrom (KIS) betroffen sind.
  • 40 % der Patienten mit schubförmig remittierender MS (RRMS) betroffen sind.
  • 56,5 % der Patienten mit primär progredienter MS (PPMS) betroffen sind.
  • 82,8 % der Patienten mit sekundär progredienter MS (SPMS) betroffen sind.

Die Prävalenz kognitiver Störungen nimmt mit der Krankheitsdauer zu.

Ursachen: Was steckt dahinter?

Die genauen Ursachen für kognitive Störungen bei MS sind noch nicht vollständig geklärt. Es wird angenommen, dass verschiedene Faktoren eine Rolle spielen:

  • Läsionen im Gehirn: Läsionen in bestimmten Hirnregionen, insbesondere im Thalamus, können kognitive Funktionen beeinträchtigen. Die Lokalisation der Läsionen ist wichtiger als ihre Anzahl.
  • Hirnatrophie: Eine Verringerung des Hirnvolumens, insbesondere im Thalamus, kann ebenfalls zu kognitiven Störungen führen.
  • Netzwerkkollaps: Schädigungen der weißen und grauen Substanz können die Kommunikation zwischen verschiedenen Hirnregionen stören, was zu einem "Netzwerkkollaps" führen kann.
  • Neuropsychiatrische Faktoren: Depressionen, Angstzustände und Fatigue können kognitive Störungen verstärken.

Auswirkungen auf Lebensqualität und Arbeitsfähigkeit

Kognitive Störungen können die Lebensqualität und die Arbeitsfähigkeit von MS-Patienten erheblich beeinträchtigen. Sie können zu:

  • Problemen im Alltag: Schwierigkeiten bei der Bewältigung alltäglicher Aufgaben wie Einkaufen, Kochen oder Autofahren.
  • Beruflichen Schwierigkeiten: Reduzierte Arbeitsleistung, Arbeitsausfälle oder Frühverrentung.
  • Sozialen Problemen: Schwierigkeiten bei der Kommunikation und Interaktion mit anderen Menschen.
  • Emotionalen Problemen: Frustration, Angst, Depression und ein Gefühl des Kontrollverlusts.

Diagnose: Wie werden kognitive Störungen erkannt?

Eine frühzeitige Diagnose ist wichtig, um geeignete Behandlungsmaßnahmen einzuleiten. Die Diagnose kognitiver Störungen erfolgt in der Regel durch eine neuropsychologische Untersuchung. Dabei werden verschiedene Tests eingesetzt, um unterschiedliche kognitive Funktionen zu überprüfen.

Neuropsychologische Testverfahren

Zur Bestimmung kognitiver Defizite stehen verschiedene Testbatterien zur Verfügung:

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  • Brief International Cognitive Assessment in Multiple Sclerosis (BICAMS): Eine kurze Screeningbatterie, die als internationaler Standard gilt. Sie besteht aus drei Tests:

    • Symbol Digit Modalities Test (SDMT): Misst die Verarbeitungsgeschwindigkeit.
    • Brief Visuospatial Memory Test-Revised (BVMT-R): Untersucht das räumlich-visuelle Kurzzeitgedächtnis und Lernen.
    • California Verbal Learning Test-II (CVLT-II) oder Verbaler Lern- und Merkfähigkeitstest (VLMT): Erfasst die verbale Merk- und Lernfähigkeit.
  • Brief Repeatable Battery of Neuropsychological Tests (BRB-N): Eine umfassendere Testbatterie, die verschiedene kognitive Bereiche abdeckt.

  • Minimal Assessment of Cognitive Function in Multiple Sclerosis (MACFIMS): Eine weitere umfassende Testbatterie.

Die BICAMS-Testbatterie wird aufgrund ihrer Kürze und einfachen Durchführbarkeit bevorzugt eingesetzt.

Der Thalamus als Schlüsselstruktur

Bei der Kognition spielt der Thalamus eine bedeutende Rolle. Er ist aufgrund seiner zahlreichen subkortikalen und kortikalen Verbindungen eine wichtige Schaltstelle für kognitive Leistungen im Gehirn und wird auch als „Tor zum Bewusstsein“ bezeichnet. Neuere Erkenntnisse zeigten, dass Patienten mit MS bereits im frühen Krankheitsstadium eine thalamische Atrophie aufwiesen, auch wenn das restliche Hirnvolumen noch intakt war. Dabei kann ein Volumenverlust des Thalamus bereits vor dem Auftreten von kognitiven Störungen ein Hinweis auf eine Progression der Erkrankung sein.

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Behandlung: Was kann man tun?

Die Behandlung kognitiver Störungen bei MS ist eine Herausforderung, da es bisher keine evidenzbasierte pharmakologische Therapie gibt, die für alle Betroffenen gleichermaßen wirksam ist. Es gibt jedoch verschiedene Ansätze, die helfen können, die kognitive Leistungsfähigkeit zu verbessern oder zu erhalten.

Pharmakologische Therapie

Bisher gibt es keine Medikamente, die speziell zur Behandlung kognitiver Störungen bei MS zugelassen sind. In älteren Studien wurden verschiedene Wirkstoffe untersucht, darunter:

  • Inhibitoren von Kaliumkanälen (Fampridin, Amifampridin)
  • Antidementiva (Donepezil, Rivastigmin, Memantin)
  • Psychostimulanzien (Modafinil, Methylphenidat, L-Amphetamin)

Die Ergebnisse dieser Studien waren jedoch negativ oder widersprüchlich.

Es gibt Hinweise darauf, dass krankheitsmodifizierende Therapien, die bei MS eingesetzt werden, auch einen positiven Einfluss auf die Kognition haben können. Studien haben gezeigt, dass Interferone, Glatiramerazetat, Natalizumab, Fingolimod, Dimethylfumarat und Daclizumab die kognitive Leistungsfähigkeit stabilisieren oder sogar verbessern können.

Nicht-pharmakologische Therapie

Nicht-pharmakologische Maßnahmen spielen eine wichtige Rolle bei der Behandlung kognitiver Störungen bei MS. Dazu gehören:

  • Kognitives Training: Gezielte Übungen zur Verbesserung von Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Konzentration und exekutiven Funktionen. Das Training sollte individuell auf die Bedürfnisse des Patienten zugeschnitten sein. Die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) und die Aktion Multiple Sklerose Erkrankter (AMSEL) haben das Programm „MS Kognition - stärke Deine Fähigkeiten“ entwickelt, um Betroffenen dabei zu helfen, ihre Leistungsfähigkeit in verschiedenen kognitiven Bereichen zu steigern.
  • Kompensationsstrategien: Erlernen von Techniken, um Defizite auszugleichen. Dazu gehören z.B. das Verwenden von Kalendern, Notizen oder Erinnerungs-Apps.
  • Ergotherapie: Unterstützung bei der Bewältigung alltäglicher Aufgaben.
  • Psychotherapie: Hilfe bei der Bewältigung von emotionalen Problemen wie Depressionen oder Angstzuständen.
  • Sport und Bewegung: Regelmäßiges Ausdauertraining kann die kognitive Leistungsfähigkeit verbessern.
  • Gesunder Lebensstil: Ausreichend Schlaf, eine gesunde Ernährung und der Verzicht auf Nikotin und Alkohol können ebenfallsPositive Auswirkungen auf die Gehirnleistung haben.

Gehirntraining im Alltag

Trainieren Sie Ihr Gehirn auch im Alltag. Lassen Sie Ihren Einkaufszettel auf dem Küchentisch liegen und gehen Sie in den Supermarkt. Anschließend sehen Sie, ob Sie an alles gedacht haben.

Die Bedeutung des Arbeitsgedächtnisses

Das Arbeitsgedächtnis spielt eine entscheidende Rolle bei komplexen Aufgaben und dem Erlernen neuer Informationen. Es setzt sich aus drei Komponenten zusammen: Kurzzeitgedächtnis, Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung und mentale Flexibilität. Gezieltes Training kann helfen, das Arbeitsgedächtnis zu verbessern und die kognitive Fitness zu erhalten.

Frühzeitige Intervention ist entscheidend

Es ist wichtig, dass Patienten mit MS schon frühzeitig immuntherapiert werden, um den strukturellen Schaden so gut wie möglich einzudämmen. Eine frühzeitige Diagnose und Behandlung von kognitiven Störungen kann dazu beitragen, den Verlauf der Erkrankung positiv zu beeinflussen und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern.

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