Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die neben den bekannten körperlichen Symptomen auch eine Reihe "unsichtbarer" Symptome mit sich bringen kann. Dazu gehören kognitive Beeinträchtigungen, die einen erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität und die Arbeitsfähigkeit der Betroffenen haben können. Dieser Artikel bietet einen umfassenden Überblick über Ursachen, Diagnose und Behandlungsmöglichkeiten von kognitiven Defiziten bei MS, basierend auf aktuellen Forschungsergebnissen und Expertenmeinungen.
Einführung in die Kognition bei MS
Kognition umfasst höhere geistige Fähigkeiten wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Konzentration, Informationsverarbeitung und Problemlösung. Bei Menschen mit MS können diese Fähigkeiten beeinträchtigt sein, was sich in Schwierigkeiten äußern kann, sich zu konzentrieren, Informationen zu verstehen oder sich an sie zu erinnern. Viele Betroffene berichten auch von einem "Brain Fog", einem Gefühl von Vernebelung und Verlangsamung der Gedanken.
Etwa zwei Drittel aller MS-Betroffenen leiden neben den körperlichen Symptomen auch unter kognitiven Einschränkungen. Diese Beeinträchtigungen können bereits in frühen Krankheitsstadien auftreten und unabhängig vom Grad der körperlichen Behinderung die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen.
Ursachen und Entstehung kognitiver Störungen bei MS
Die genauen Ursachen für kognitive Störungen bei MS sind noch nicht vollständig geklärt. Es wird angenommen, dass verschiedene Faktoren eine Rolle spielen. Im Gehirn und Rückenmark kommt es zu fortschreitenden Gewebeschädigungen. Dadurch wird einerseits die Weiterleitung von Reizen langsamer, andererseits können Verbindungen im Gehirn auch gänzlich zerstört werden.
Läsionen im Gehirn
Lange Zeit wurde vermutet, dass die Anzahl der Läsionen im Gehirn ausschlaggebend dafür ist, ob ein Patient kognitive Störungen entwickelt oder nicht. Dies ist jedoch nicht der Fall. Kognitive Störungen sind unabhängig von der Anzahl der Läsionen; vielmehr beeinflusst die Lokalisation der Läsionen das Auftreten von kognitiven Störungen. Liegen auch nur wenige Läsionen in für die Kognition strategischen Hirnregionen, kann daraus ein kognitives Defizit resultieren. Hirnregionen, die für das kognitive Lernen zuständig sind, können durch Läsionen und mikrostrukturelle Veränderungen der weißen Substanz sowie diffuse Atrophie beeinträchtigt sein.
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Hirnatrophie
Neben der Lokalisation der Läsionen spielt auch die Hirnatrophie eine entscheidende Rolle. Es gilt als gesichert, dass das kortikale Gesamthirnvolumen bei kognitiv beeinträchtigten Patienten kleiner ist als bei Personen mit intakter Kognition. Darüber hinaus gibt es Evidenz dafür, dass eine frühzeitig auftretende atrophische Veränderung in den ersten beiden Jahren nach Diagnosestellung als Prädiktor für einen ungünstigen kognitiven Verlauf in den Folgejahren zu werten ist.
Thalamus als Schlüsselstruktur
Bei der Kognition spielt der Thalamus eine bedeutende Rolle: Er ist aufgrund seiner zahlreichen subkortikalen und kortikalen Verbindungen eine wichtige Schaltstelle für kognitive Leistungen im Gehirn und wird auch als „Tor zum Bewusstsein“ bezeichnet. Neuere Erkenntnisse zeigten, dass Patienten mit MS bereits im frühen Krankheitsstadium eine thalamische Atrophie aufwiesen, auch wenn das restliche Hirnvolumen noch intakt war. Dabei kann ein Volumenverlust des Thalamus bereits vor dem Auftreten von kognitiven Störungen ein Hinweis auf eine Progression der Erkrankung sein.
Netzwerkkollaps
Es wird angenommen, dass verschiedene Faktoren kognitive Störungen bei MS beeinflussen. Gleichzeitig sind auch pathologische Veränderungen und eine Dysfunktion spezifischer Strukturen der grauen Substanz, des Hippocampus und des Cerebellums von Bedeutung. So greifen vermutlich Schädigungen von weißer und grauer Substanz ineinander, sodass bestimmte Strukturen im Gehirn nicht mehr miteinander kommunizieren können - das Resultat ist der sogenannte Netzwerkkollaps.
Es wird vermutet, dass zu Beginn der MS der strukturelle Schaden gering ist, wodurch die Netzwerkeffizienz weiterhin relativ hoch bleibt. Mit steigendem strukturellen Schaden verringert sich die Netzwerkeffizienz drastisch, und es treten vermehrt kognitive Störungen auf. Aufgrund von Gehirnplastizität und kognitiver Reserve der Patienten dauert es länger, bis das Netzwerk komplett einbricht.
Einfluss neuropsychiatrischer Beschwerden
Im Verlauf der MS-Erkrankung können neuropsychiatrische Beschwerden auftreten. Zu diesen zählen nicht nur Fatigue, Depressionen und Ängstlichkeit, sondern auch kognitive Störungen. Zudem können Stress, Krankheitsaktivität und MS-Medikation zusätzlich Depressionen und Ängste begünstigen.
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Arten von kognitiven Störungen bei MS
Bei MS können kognitive Störungen in verschiedenen Bereichen auftreten. Die kognitiven Veränderungen bei Patienten mit MS fokussieren sich auf 3 wesentliche Bereiche:
- Kognitive Verlangsamung: Einschränkung in der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit. Dies ist ein häufiges frühes Zeichen kognitiver Störungen und sollte als Warnsignal für eine Progression der Erkrankung gesehen werden.
- Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprobleme: Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit anhaltend auf dem gleichen Niveau zu halten.
- Beeinträchtigungen der exekutiven Funktionen: Z. B. eingeschränktes Multitasking, eingeschränkte mentale Flexibilität.
Trotz der vielen kognitiven Einschränkungen müssen Patienten mit MS keine Angst vor einer klassischen Demenz haben.
Diagnose von kognitiven Störungen bei MS
Eine frühzeitige Diagnose von kognitiven Störungen ist entscheidend, um geeignete Behandlungsstrategien einzuleiten und den Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen. Eine Überprüfung der Kognition von Patienten mit MS sollte Bestandteil der regelmäßigen Untersuchungen sein. Der kognitive Status kann bei der Bewertung der Krankheitsprogression hilfreich sein. Bleibt die kognitive Leistungsfähigkeit stabil, kann dies ein Hinweis sein, dass die Therapie wirksam ist. Kommt es zu einer Verschlechterung, sollte über eine Anpassung der Therapie nachgedacht werden.
Neuropsychologische Tests
Zur Bestimmung kognitiver Defizite stehen verschiedene Testbatterien zur Verfügung. Dazu zählen Brief International Cognitive Assessment in Multiple Sclerosis (BICAMS), Brief Repeatable Battery of Neuropsychological Tests (BRB-N) und Minimal Assessment of Cognitive Function in Multiple Sclerosis (MACFIMS), die alle aus unterschiedlichen Einzeltests bestehen.
Die BICAMS-Screeningbatterie ist ein empfehlenswertes Instrument, um den kognitiven Status im Rahmen der klinischen Routine zu erfassen. Jedoch kommt die Screeningbatterie BICAMS bevorzugt zum Einsatz, da sie derzeit als internationaler Standard gilt und in kurzer Zeit umsetzbar ist (ca. 20 Minuten). Sie besteht aus drei Tests:
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- Symbol-Digit-Modalities-Test (SDMT): Misst die Verarbeitungsgeschwindigkeit.
- Verbaler Lern- und Merkfähigkeitstest (VLMT): Erfasst die verbale Merk- und Lernfähigkeit.
- Brief Visual Memory Test Revised (BVMT-R): Untersucht das räumlich visuelle Kurzzeitgedächtnis und Lernen.
Manche Ärzte klagen jedoch, dass selbst die Durchführung der 20-minütigen BICAMS-Testbatterie im Praxisalltag aufgrund von Zeitmangel schwierig sein kann. Abhilfe kann dabei die verkürzte BICAMS-Testbatterie (Zweitestkombination) verschaffen. Die Zweitestkombination aus SDMT und BVMT-R erreichte eine Sensitivität von 92,7 % und eine Spezifität von 97,9 %. Diese Kombination führt bereits zu einem guten Übereinstimmungswert, sodass der kognitive Status bei möglichst vielen Patienten korrekt bestimmt werden kann.
Behandlung von kognitiven Störungen bei MS
Die Behandlung von kognitiven Störungen bei MS ist eine große Herausforderung, da es keine allgemeingültige, einheitliche Therapie gibt. Vielmehr handelt es sich um eine individuelle, auf den Patienten zugeschnittene Behandlung.Generell gilt: Je früher die Behandlung beginnt, desto besser sind die Erfolgsaussichten.
Pharmakologische Therapie
Es gibt bisher keine evidenzbasierte, pharmakologische Therapie zur Behandlung kognitiver Störungen. In älteren Studien wurden bereits verschiedene pharmakologische Therapieoptionen zur symptomatischen Behandlung geprüft. Zu den untersuchten Wirkstoffen zählen unter anderem Inhibitoren von Kaliumkanälen (Fampridin, Amifampridin), Antidementiva (Donepezil, Rivastigmin, Memantin) sowie Psychostimulanzien, die bei Narkolepsie und Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom Einsatz finden (Modafinil, Methylphenidate, L-Amphetamin). Die Ergebnisse der Studien waren jedoch negativ oder widersprüchlich. Es konnte kein klarer, konsistenter Vorteil beobachtet werden.
Krankheitsmodifizierende Therapien
Ob krankheitsmodifizierende Therapien, die bei MS Einsatz finden, auch bei kognitiven Defiziten wirksam sind, wurde bisher nur in wenigen Studien untersucht. Die Studien sind mitunter nicht vergleichbar, da verschiedene Testbatterien zur Bemessung der kognitiven Leistungsfähigkeit verwendet werden.
Für die Interferone und Glatiramerazetat konnte gezeigt werden, dass sie sich nicht nachteilig auf die kognitive Leistungsfähigkeit auswirken, sondern Patienten unter der Therapie deutlich besser abschneiden als solche unter Placebo. Natalizumab, Fingolimod und Dimetylfumarat wirken sich ebenfalls stabilisierend auf die Kognition aus, konnten aber in bisherigen Studien keine klinisch relevante Verbesserung zeigen. Eine solche Verbesserung konnte jüngst eindrücklich für Daclizumab vorgestellt werden.
Es ist demnach von Bedeutung, dass Patienten mit MS schon frühzeitig immuntherapiert werden, um den strukturellen Schaden so gut wie möglich einzudämmen.
Nicht-pharmakologische Therapieansätze
Die nicht-medikamentösen Therapieansätze umfassen neuropsychologische Maßnahmen. Beeinträchtigte kognitive Funktionen können durch spezielle, z.T. regelmäßig trainiert werden. Dabei entscheidet Ihr Therapeut, welche Trainingsprogramme und -methoden für Sie in Frage kommen. Ziel des Trainings ist es, die geschwächten Fähigkeiten zu steigern und so gut wie möglich wiederherzustellen. Nicht immer gelingt es, vorhandene kognitive Einschränkungen vollständig zu beseitigen. Dann können spezifische Strategien entwickelt werden, um die ausgefallene Funktion auszugleichen. Zum anderen verschiedene externe Hilfsmittel (z.B. Gedächtnisproblemen) einzusetzen, um mit dem Alltag umzugehen.
- Kognitives Training: Je nach Störung gibt es unterschiedliche kognitive Trainingsmethoden, z. B. mithilfe von Computerprogrammen, die Ihnen helfen können, kognitiven Beeinträchtigungen entgegenzuwirken. Um einen Effekt zu erzielen, müssen Sie allerdings regelmäßig trainieren.
- Zeitmanagementtraining und Erinnerungshilfen: Ein Zeitmanagementtraining, Strategien zum Ausgleich von Beeinträchtigungen sowie Erinnerungshilfen können zudem eine wichtige Stütze für Sie im Alltag sein.
- Sportliche Aktivität: Moderates Ausdauertraining wirkt sich positiv auf die kognitive Leistungsfähigkeit aus. Eine Studie zur Frage der Intensität hat gezeigt, dass intensives, moderates und leichtes Training sich gleichsam positiv auswirken. Wichtig ist, dass überhaupt körperliche Aktivität durchgeführt wird.
- Hirnleistungstraining: Auch Hirnleistungstraining ist eine Maßnahme, von der viele Patienten profitieren. Das Training sollte allerdings spezifisch auf die jeweiligen im Vordergrund stehenden Defizite zugeschnitten sein und nicht einen Rundumschlag darstellen im Sinne von „viel hilft auch viel“.
- Weitere Strategien:
- Schaffen Sie günstige Bedingungen
- Achten Sie auf Veränderungen und sprechen Sie mit Ihrem Arzt, wenn Sie dies bemerken.
- Nehmen Sie an Selbsthilfegruppen teil.
- Tauschen Sie sich mit anderen Betroffenen aus.
- Äußern Sie Ihre eigenen persönlichen Bedürfnisse und Wünsche.
- Bauen Sie Unsicherheiten ab und stärken Sie das Selbstbewusstsein.
Die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) hat ein Online-Übungs-Tool entwickelt, mit dem man die grauen Zellen nachhaltig aktivieren kann. Die Übungen zielen darauf ab, die einströmenden Informationen besser filtern, aufnehmen und bewältigen zu können. Dazu gehören Übungen wie Blitzreaktion, Getränkeausschank, Rechenspeicher, Wörtersuche und Dienstplanerstellung.
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