Fatigue, oder chronische Müdigkeit, ist eines der am häufigsten berichteten und belastendsten Symptome der Multiplen Sklerose (MS). Sie kann sich auf den gesamten Körper und die geistigen Fähigkeiten auswirken und körperliche Anstrengungen sowie die geistige Aufnahmefähigkeit erheblich einschränken.
Was ist Fatigue bei MS?
Fatigue bei MS unterscheidet sich deutlich von normaler Müdigkeit. Es handelt sich um ein überwältigendes und anhaltendes Erschöpfungsgefühl, das zu jedem Zeitpunkt der Erkrankung auftreten kann und die Lebensqualität massiv beeinträchtigt. Anders als bei normaler Müdigkeit helfen bei Fatigue weder zusätzlicher Espresso noch ausreichend Schlaf. Betroffene benötigen ungewöhnlich häufig Pausen im Alltag.
Im Alltag kann sich Fatigue dadurch äußern, dass Betroffene keine Kraft mehr zum Essen haben, nachdem sie etwas Leckeres gekocht haben, im Garten nicht mehr aufstehen können oder sich nach dem Duschen erst einmal hinlegen müssen. Auch Konzentrationsschwierigkeiten, die dazu führen, dass man ein Buch oder eine Fernsehreportage mehrmals von vorne beginnen muss, weil die Aufmerksamkeit schon nach wenigen Minuten nachlässt, sind typisch. Soziale Aktivitäten wie Treffen mit Freunden werden oft vermieden, weil abends die Batterien leer sind.
Fatigue ist eines der am meisten einschränkenden Symptome der MS und nicht selten ein Grund für eine Berentung. Sie kann sich sowohl körperlich als auch kognitiv zeigen.
Ursachen von Fatigue bei MS
Die Ursachen von Fatigue bei MS sind komplex und noch nicht vollständig geklärt. Es wird angenommen, dass verschiedene Faktoren eine Rolle spielen, darunter:
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- Direkte Ursachen: Entzündungsherde (Läsionen) im Gehirn, die die Nervenbahnen schädigen und zu einem langsameren Transport von Reizen und Signalen führen. Insbesondere Läsionen in Hirnregionen wie dem Hypothalamus, dem Hirnstamm und den monoaminergen Kernen, die für Wachheit, Antrieb, Motivation und Stimmungslage eine wichtige Rolle spielen, können Fatigue auslösen. Auch Läsionen an anderen Orten im Zentralnervensystem können die Effizienz der Kommunikation zwischen Hirnarealen verringern und zur Fatigue beitragen.
- Indirekte Ursachen:
- Andere MS-Symptome wie Spastik, Koordinationsprobleme, Blasenstörungen oder Schlafprobleme, die zusätzliche Energie kosten und die Fatigue verstärken. Jedes Symptom, das Energie kostet, verstärkt die Fatigue.
- Entzündungsprozesse außerhalb des ZNS, die indirekt die Funktion des Gehirns beeinflussen können. Bei Entzündungen werden Zytokine (Entzündungsmediatoren) produziert, welche die Synthese von monoaminergen Botenstoffen in Hirnstammkernen stören können. Die verringerte Produktion dieser Botenstoffe kann zu Beeinträchtigungen von Motivation, Antrieb und Stimmung führen, welche für Fatigue zentral sind.
- Veränderter Stoffwechsel.
- Sehstörungen, die dazu führen, dass der Körper für die Kompensation zusätzliche Energie benötigt.
- Schmerzen, psychische Anspannung oder hohe Temperaturen.
- Medikamente, die als Nebenwirkung Müdigkeit verursachen oder Wechselwirkungen haben, die unerwünschte Nebenwirkungen mit sich bringen.
- Psychologische Faktoren: Psychische Belastung durch die Krankheit, Depressionen, Angststörungen oder Stress können ebenfalls zur Fatigue beitragen.
- Kompensatorische Aktivierung von Hirnnetzwerken: Das Gehirn versucht, durch Läsionen gestörte Funktionen zu kompensieren, indem es andere bzw. zusätzliche Netzwerke rekrutiert. Diese Überaktivierung des Gehirns kann kurzfristig adaptiv sein, aber langfristig zu Fatigue führen.
- Veränderte Körperwahrnehmung und Metakognition: Eine veränderte Körperwahrnehmung, bei der das Gehirn ständig überwacht, wie erfolgreich es die homöostatische Balance im Körper wahrt, kann ebenfalls eine Rolle spielen. Anhaltende Fehlersignale in der Insula, die durch Entzündungsprozesse oder Läsionen verursacht werden können, signalisieren dem Gehirn eine Hilflosigkeit bei der Wiederherstellung der Homöostase, was zu Fatigue führt.
Diagnostik der Fatigue
Die Diagnose von Fatigue ist schwierig, da es keine spezifischen Tests gibt, die Fatigue objektiv messen können. Es gibt keinen Laborwert, keinen MRI-Befund oder sonst einen Marker, der anzeigt, ob und wie schwer jemand Fatigue hat. Zunächst werden sekundäre Ursachen der Fatigue ausgeschlossen, wie z.B. Anämie, Schilddrüsenunterfunktion oder Schlafstörungen.
Die Abgrenzung der Fatigue von einer Depression kann ebenfalls schwierig sein, da Fatigue selbst Teil der Diagnosekriterien der Depression ist und Menschen mit Fatigue oft auch eine Depression entwickeln. Klinische Hinweise können sein, dass Menschen mit Depressionen am Morgen häufig stärkere Symptome haben, die sich im Laufe des Tages bessern, während Menschen mit Fatigue berichten, dass ihre Leistungsfähigkeit am Morgen eher besser ist und im Laufe des Tages abnimmt.
Nach dem Ausschluss anderer Ursachen werden in der Regel spezielle Fatigue-Fragebögen für diagnostische Zwecke eingesetzt. Ein Problem der Fragebögen ist, dass sie keine objektive Einschätzung der Fatigue ermöglichen und durch den aktuellen Zustand und Kontext beeinflusst sein können. Zudem unterscheiden viele der genutzten Fragebögen nicht klar zwischen körperlichen und kognitiven Aspekten der Fatigue und differenzieren nicht zwischen Fatigue und Ermüdbarkeit. Der grösste Nachteil der Fragebögen ist allerdings, dass sie keine Rückschlüsse erlauben, welche Ursache der Fatigue zugrunde liegt.
Therapieansätze gegen Fatigue
Die Therapie der Fatigue bei MS ist komplex und erfordert einen individuellen Ansatz. Da die Entstehungswege der Fatigue vermutlich heterogen sind, bräuchte es dringend klinische Tests, welche es erlauben, gezielte Therapieansätze individuell zu bestimmen. Solche Tests sind bislang nicht verfügbar. Die Tatsache, dass der Heterogenität bislang nicht Rechnung getragen werden kann, erklärt auch, dass die bisherigen Studien zu Therapien für Fatigue, insbesondere für Medikamente, insgesamt eher ernüchternd ausfielen.
Die gegenwärtige Therapie der Fatigue bei MS beruht auf zwei Pfeilern:
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Nicht-medikamentöse Ansätze:
- Bewusste Lebensweise: Eine bewusste Lebensweise mit gesundem Essen, ausreichend Flüssigkeit (mindestens zwei Liter am Tag) und regelmäßigen Pausen ist wichtig.
- Energiemanagement: Energiemanagement umfasst Strategien, um die eigenen Kräfte einzuteilen und Aktivitäten so zu planen, dass Überanstrengung vermieden wird.
- Körperliches Training: Gezieltes Training, insbesondere Ausdauersportarten wie Joggen, Schwimmen oder Radfahren, aber auch Krafttraining, können die MS-Symptomatik lindern, insbesondere die Fatigue. Auch Ganzkörpertraining wie Yoga, Pilates oder Sport zu Musik können helfen. Es ist wichtig, das Training moderat anzugehen und sich nicht zu sehr auszupowern.
- Kognitive Verhaltenstherapie: Kognitive Verhaltenstherapie kann helfen, negative Denkmuster zu erkennen und zu verändern, die zur Fatigue beitragen.
- Achtsamkeitsbasierende Verfahren: Achtsamkeitsbasierende Verfahren können helfen, die Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment zu lenken und Stress abzubauen.
- Kühlen des Körpers: Im Sommer kann es helfen, den Körper durch entsprechende Kleidung zu kühlen oder die Mittagshitze für eine Pause zu nutzen.
- Veränderung der Lebensgewohnheiten: Rauchen sollte vermieden und Alkohol nur in geringen Mengen konsumiert werden.
- Gehirntraining: Trainieren Sie Ihr Gehirn, indem Sie eine neue Sprache lernen, Apps nutzen oder sich intensiv mit einem Thema auseinandersetzen, wo Sie viel Neues lernen.
Medikamentöse Therapie:
- Es gibt kein Medikament, das speziell für die Behandlung von Fatigue bei MS zugelassen ist. Allerdings werden verschiedene Medikamente "off-label" eingesetzt, d.h. für eine andere Indikation als Fatigue.
- Antidepressiva: Antidepressiva, die die Verfügbarkeit von monoaminergen Botenstoffen (Serotonin, Noradrenalin, Dopamin) im Gehirn erhöhen, können wegen ihres antriebssteigernden Effekts eingesetzt werden.
- Stimulanzien: Stimulanzien wie Modafinil können helfen, die Wachheit zu erhöhen.
- Fampridin: Fampridin kann bei einigen Patienten die Gehfähigkeit verbessern und auch einen positiven Effekt auf die Fatigue haben.
- Weitere: Einzelne Studien haben einen positiven Effekt von Ginseng oder Aspirin gezeigt.
Angesichts des Mangels an gezielten klinischen Tests ist die Therapie der Fatigue bei MS momentan vom Prinzip Versuch-und-Irrtum geprägt. Für Menschen mit MS ist dies häufig ein mühsamer und unbefriedigender Weg, nicht zuletzt, weil die Fatigue häufig ungenügend behandelt bleibt und dadurch Lebensqualität und nicht selten auch Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt sind.
KI zur Vorbereitung auf Arztgespräche
Künstliche Intelligenz (KI) kann hilfreich sein, um sich auf Arztgespräche vorzubereiten. KI kann dir dabei helfen, dich strukturiert zu informieren und die richtigen Fragen zu formulieren. Es ist jedoch wichtig, dabei keine personenbezogenen Daten preiszugeben.
Prävention von Fatigue
Die beste Prävention gegen Fatigue ist die verlaufsmodifizierende Therapie, die im besten Fall zu einem Stopp der Multiplen Sklerose führt oder die Krankheitsaktivität mindestens stark eindämmt.
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Leben mit Fatigue
Fatigue ist ein unsichtbares Symptom, das oft schwer zu erklären ist. Es ist wichtig, die Fatigue anzusprechen, um Missverständnisse zu vermeiden. Im privaten und beruflichen Umfeld kann es sinnvoll sein, zu erklären, was die Fatigue mit einem macht und welche Bedürfnisse man hat.
Aktuelle Forschung
Die Fatigue Forschung rückt immer mehr in den Fokus. In der Schweiz gibt es beispielsweise das FAMRI-Projekt, in dem mit funktioneller MRT analysiert wird, was genau bei der Fatigue passiert, sowohl auf direkter als auch auf indirekter Ebene. Ziel ist es, MRI-Marker als diagnostische Tools zu nutzen, um zukünftig gezieltere Therapieansätze zu entwickeln.