Multiple Sklerose: Neue Erkenntnisse und Therapieansätze

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die das Gehirn und das Rückenmark betrifft. Sie wird auch Encephalomyelitis disseminata (ED) genannt und beginnt meist im frühen Erwachsenenalter, wobei Frauen etwa zwei- bis dreimal häufiger betroffen sind als Männer. Die Erkrankung ist durch Entzündungen im Gehirn und Rückenmark gekennzeichnet, die durch den Angriff körpereigener Abwehrzellen auf die Myelinscheiden der Nerven verursacht werden. In der Folge werden weitere zentrale Nervenstrukturen zerstört, was zu vielfältigen Symptomen führt.

Ursachen und Risikofaktoren

Die genauen Ursachen für MS sind noch nicht vollständig geklärt. Es wird angenommen, dass ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren eine Rolle spielt. Dazu gehören genetische Veranlagung, Virusinfektionen (z. B. mit Masern-, Herpes- oder Epstein-Barr-Viren), Vitamin-D-Mangel und Rauchen. Auch das Geschlecht scheint einen Einfluss zu haben, da Frauen häufiger betroffen sind.

Symptome, Verlauf und Diagnose

MS manifestiert sich in den unterschiedlichsten Formen, was die Diagnose erschweren kann. Die Symptome können plötzlich und unerwartet auftreten und variieren stark von Patient zu Patient. Häufige Symptome sind:

  • Sehstörungen (Verschwommen- oder Nebelsehen, Sehausfall)
  • Krämpfe, Muskelzuckungen, Schwerfälligkeit, spastische Lähmungserscheinungen
  • Müdigkeit, allgemeine Mattigkeit oder Konzentrationsstörungen (Fatigue)
  • Gefühlsstörungen der Haut (Kribbeln, Taubheitsgefühl)
  • Unsicherheiten beim Gehen, Störungen der Bewegungskoordination
  • Lähmungen oder Störungen beim Entleeren von Darm oder Blase

Meist verläuft die Erkrankung in Schüben, bei denen Symptome auftreten, die sich dann wieder zurückbilden (schubförmig-remittierende MS). Bei etwa 10 % der Patienten schreitet die MS von Beginn an unaufhaltsam fort (primär progrediente MS). Es gibt auch eine Mischform, die sekundär progrediente MS, die sich aus der schubförmigen MS entwickelt, wenn sich die Symptome nach einem Schub kaum noch oder gar nicht mehr zurückbilden.

Die Diagnose von MS kann komplex sein und erfordert eine sorgfältige neurologische Untersuchung, Bildgebung des Gehirns und Rückenmarks (Magnetresonanztomographie, MRT) sowie die Analyse der Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit.

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Aktuelle Therapieansätze

Obwohl MS nicht heilbar ist, gibt es moderne Behandlungsmöglichkeiten, die den Verlauf der Erkrankung hinauszögern und die Lebensqualität der Betroffenen verbessern können. Die Therapie stützt sich auf mehrere Säulen:

  1. Schubtherapie: Behandlung akuter Schübe, um Beschwerden schnell zurückzubilden (Cortison-Präparate).
  2. Verlaufsmodifizierende Therapie (Basistherapie): Reduktion der Schwere und Häufigkeit der Schübe, um die beschwerdefreie Zeit zu verlängern. Hierzu zählen Betainterferon-Präparate, Glatirameracetat sowie verschiedene Medikamente in Tablettenform (Fingolimod, Siponimod, Ponesimod, Ozanimod, Teriflunomid, Dimethylfumarat und Cladribin). Bei hoher Schubrate können auch Antikörperpräparate (Natalizumab, Ocrelizumab, Ofatumumab) oder Chemotherapeutika eingesetzt werden.
  3. Symptomatische Therapie: Linderung von MS-Beschwerden und Vorbeugung möglicher Komplikationen.

Neue Therapieansätze und Forschungsergebnisse

Die MS-Forschung ist weiterhin sehr aktiv, und es werden ständig neue Therapieansätze entwickelt und erprobt. Einige vielversprechende Entwicklungen sind:

Zelltherapie zur Wiederherstellung der Immuntoleranz

Ein innovativer Therapieansatz zielt darauf ab, das Immunsystem der Betroffenen dazu zu bringen, die Angriffe auf die Myelinscheide der Nervenzellen einzustellen. Dabei werden dem Patienten weiße Blutkörperchen (Leukozyten) entnommen und mit Peptiden der Myelinscheide versehen. Diese veränderten Leukozyten werden dem Patienten wieder infundiert, wodurch das Immunsystem lernt, die Myelinpeptide als körpereigen zu erkennen und eine Immuntoleranz entwickelt. Eine erste klinische Studie hat gezeigt, dass diese Therapie gut vertragen wird und positive Effekte auf den Krankheitsverlauf haben kann.

CAR-T-Zell-Therapie bei Autoimmunerkrankungen

Die CAR-T-Zell-Therapie, die ursprünglich zur Behandlung von Blutkrebs entwickelt wurde, zeigt auch vielversprechende Ergebnisse bei Autoimmunerkrankungen wie MS. Dabei werden T-Zellen aus dem Blut des Patienten entnommen und im Labor genetisch verändert, sodass sie andere Immunzellen (B-Zellen) erkennen und unschädlich machen können. Da B-Zellen bei Autoimmunerkrankungen Antikörper bilden, die sich gegen den eigenen Körper richten, kann die CAR-T-Zell-Therapie dazu beitragen, die Autoimmunreaktion zu unterdrücken. Erste Forschungsergebnisse deuten auf eine Wirksamkeit dieser Therapie bei MS hin.

Tolebrutinib: Ein neuer Wirkstoff mit Potenzial

Der Wirkstoff Tolebrutinib weckt große Hoffnungen für die Therapie der MS. Zwei groß angelegte, internationale Phase-III-Studien haben positive Effekte bzw. Tendenzen für den Verlauf der MS gezeigt. Tolebrutinib reduziert nicht nur Schübe, sondern verlangsamt möglicherweise auch das Fortschreiten der Behinderung, unabhängig von sichtbarer Entzündung. Dies ist ein bedeutender Fortschritt gegenüber bisherigen Therapien, die primär auf die Kontrolle akuter Entzündungsprozesse abzielen.

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Identifizierung von Zielantigenen bei MS

Forschende haben mit dem Membranprotein MLC1 ein potenzielles Zielantigen bei MS identifiziert. Durch die Kombination moderner Techniken konnte eine signifikant erhöhte Antikörperreaktion gegen MLC1 in B-Zell-Kulturen und Serumproben von Patienten mit MS festgestellt werden. Zukünftige Studien müssen den diagnostischen und prognostischen Wert von MLC1-spezifischen Antikörpern untersuchen und die Rolle der MLC1-Expression von Neuronen und Astrozyten charakterisieren.

Genetischer Biomarker für die Medikamentenwahl

Eine Studie unter Leitung der Universität Münster hat einen genetischen Biomarker identifiziert, der vorhersagt, ob MS-Patienten besonders gut auf eine Behandlung mit Glatirameracetat (GA) ansprechen. Menschen mit dem Gewebetyp HLA-A*03:01 profitieren demnach signifikant stärker von GA als von Interferon-beta (IFN). Diese Erkenntnis kann in Zukunft die Therapieentscheidung erleichtern und zu einer personalisierten MS-Behandlung beitragen.

Einfluss von Lebensstilfaktoren

Studien untersuchen den Einfluss von Lebensstilfaktoren auf die Entstehung und den Verlauf von MS. Es wird angenommen, dass Umweltfaktoren eine wichtige Rolle spielen, da die Ursachen für MS zu etwa einem Drittel auf Gene und zu zwei Dritteln auf Umweltfaktoren zurückzuführen sind.

Das Mikrobiom und MS

Münchner Forscher haben das Mikrobiom von Zwillingen untersucht, von denen einer an MS erkrankt ist und der andere nicht. Sie konnten ein Darmbakterium identifizieren, das möglicherweise eine Rolle bei der Entstehung von MS spielt.

Hemmung von SOX6 zur Förderung der Zellreifung

Ein US-Forschungsteam hat entdeckt, dass das Protein SOX6 wie eine Bremse wirkt und die Reifung wichtiger Gehirnzellen (Oligodendrozyten) blockiert, die für die Bildung der Myelinscheiden verantwortlich sind. Bei MS scheint diese Bremse zu lange angezogen zu bleiben. Die Reduktion von SOX6 in Mausmodellen führte zu einer verbesserten Zellreifung und könnte einen potenziellen Ansatz zur Reparatur von durch MS verursachten Schäden darstellen.

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