Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche demyelinisierende Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), bei der es zu herdförmigen Demyelinisierungen im Gehirn und Rückenmark kommt. Die Ätiologie der Multiplen Sklerose ist noch unbekannt. Nach derzeitigem Kenntnisstand ist eine - durch infektiöse oder umwelttoxische Faktoren getriggerte - Autoimmunkrankheit bei genetisch disponierten Personen am wahrscheinlichsten. Weltweit wird die Zahl der Betroffenen auf ca. 2 Mio. geschätzt, in Deutschland geht man von über 120.000 Erkrankten aus. Frauen sind 1,4-2,3-mal häufiger betroffen als Männer. Die sehr unterschiedliche Symptomatik entspricht diesen multiplen Lokalisationen im ZNS, wobei das klinische Bild von weitestgehend symptomfreien Patienten bis hin zu einer schnell progressiven, zum Tode führenden Krankheit reicht. Die multiple Sklerose verläuft meist in Schüben, wobei die ersten Krankheitssymptome meist bei Erwachsenen zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr auftreten. Die Prävalenz der Multiplen Sklerose weist weltweit ein deutliches Nord-Süd-Gefälle auf und ist mit ca. 150 Fällen auf 100.000 Einwohner in Deutschland relativ hoch. Anästhesiologisch von besonderer Bedeutung sind dabei die Schmerztherapie.
Die Wahl des richtigen Anästhesieverfahrens wird als entscheidendes Kriterium bei der Durchführung eines chirurgischen Eingriffs genannt. Im Bereich der Anästhesiologie sind die Spinalanästhesie und die Epiduralanästhesie häufig verwendete Techniken für eine Vielzahl von Eingriffen. Insgesamt betrachtet ist die Spinalanästhesie ein sehr sicheres Verfahren, um schmerzfreie Operationen zu ermöglichen. Wie bei jeder Methode gibt es gelegentlich Komplikationen, die aber meist nur vorübergehend sind.
Grundlagen der Spinalanästhesie und Epiduralanästhesie
Die Spinalanästhesie findet Anwendung bei zahlreichen chirurgischen Eingriffen. Ein Blick in die Geschichte dieser Methode offenbart, dass sie als die ursprüngliche Technik der Regionalanästhesie gilt. Ihre erste dokumentierte Anwendung für eine Operation geht auf das Jahr 1898 zurück, als August Bier in Deutschland diese Technik erstmalig anwandte. Bei dieser Art der Anästhesie wird eine einmalige Dosis eines Anästhetikums in den Subarachnoidalraum injiziert. Auf diese Weise kann die Spinalanästhesie bei Operationen am Unterbauch, Becken, Damm, den unteren Extremitäten und Eingriffen unterhalb des Nabels eingesetzt werden.
Bei diesem Anästhesieverfahren injiziert der Anästhesist ein oder mehrere Medikamente in den Epiduralraum, der an die Dura mater spinalis grenzt, und erreicht so eine „zentrale“ und/oder „neuraxiale“ Blockade. Darüber hinaus gibt es Studien, die seine Vorteile bei der Verringerung des Operationsrisikos und der Morbidität bei bestimmten Patienten (z. B. Es handelt sich jedoch nicht um eine risikofreie Technik.
Unterschiede zwischen Spinal- und Epiduralanästhesie:
- Ort der Injektion: Bei der Spinalanästhesie erfolgt die Injektion direkt in die Liquor cerebrospinalis im Subarachnoidalraum der Wirbelsäule und ist somit vollständiger und schneller.
- Wirkungsgeschwindigkeit: Die Spinalanästhesie setzt im Allgemeinen schneller ein und führt zu einer sofortigen und tiefgreifenden Schmerzlinderung. Die Epiduralanästhesie hat eine lange Dauer und ist daher eine geeignete Technik für umfangreiche chirurgische Eingriffe. Die Dauer der Spinalanästhesie ist begrenzt, da sie kürzer wirkt, und sie ist nicht die bevorzugte Option für eine länger anhaltende Schmerzkontrolle. Es gibt viele Eingriffe, bei denen man nicht klar die eine oder die andere Technik wählt.
Kombinierte Spinal- und Epiduralanästhesie (CSE):
Mit der kombinierten Technik der Spinal- und Epiduralanästhesie (CSE) können Sie die Vorteile beider Methoden nutzen. Obwohl diese Technik erstmals 1937 beschrieben wurde, wurden zahlreiche Fortschritte erzielt, die es ermöglichten, die Technik zu dem zu perfektionieren, was sie heute ist. Es gibt keine einheitliche Antwort oder Regel, sondern vielmehr eine Reihe von Indikationen, die jeder Fachmann kennen und anpassen muss, um für jeden Fall und Patienten die bestmögliche Wahl zu treffen.
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Mögliche Risiken und Komplikationen der Spinalanästhesie
Wie bei jedem medizinischen Eingriff birgt auch die Spinalanästhesie bestimmte Risiken.
- Postspinaler Kopfschmerz: Etwa ein bis drei Prozent der Patienten klagen meist am zweiten Tag nach der Spinalanästhesie über Kopfschmerzen. Vor allem jüngere Patienten scheinen hiervon besonders betroffen zu sein. Der Schmerz entsteht wahrscheinlich durch einen geringen Verlust von Liquor, der Flüssigkeit, die das Rückenmark umgibt, an der Stelle des Einstichs. Im Stehen oder Sitzen ist der Schmerz am schlimmsten, im Liegen tritt in der Regel eine Besserung ein. Im Extremfall kann es erforderlich sein, dass der Patient einige Tage im Bett bleiben muss. Flaches Liegen, reichliches Trinken und gegebenenfalls Schmerzmittel helfen. In den meisten Fällen verschwindet der Kopfschmerz nach einigen Tagen wieder. Falls diese Maßnahmen nicht erfolgreich sind, gibt es die Möglichkeit eines so genannten „epiduralen Blutpatchs“. An der Stelle, an der das Leck entstanden ist, wird in den Spinalraum umgebenden Epiduralraum eine kleine Menge patienteneigenes Blut gespritzt. Dieses Blut gerinnt und verhindert so ein weiteres Austreten von Liquor. Bei anhaltendem spinalem Kopfschmerz kann ein solcher Patch auch einige Zeit nach der Spinalanästhesie noch helfen.
- Kreislaufreaktionen: Kreislaufreaktionen wie Blutdruckabfall oder Verlangsamung des Herzschlags gibt es manchmal besonders am Anfang der Anästhesie. Sie lassen sich meist durch einfache Maßnahmen beheben.
- Blasenfunktionsstörungen: Je nachdem, in welcher Höhe der Wirbelsäule die Spinalanästhesie durchgeführt wurde, können die für die Entleerung der Blase verantwortlichen Nerven von der Betäubung mit betroffen sein. Dadurch kommt es hin und wieder zu einer vorübergehenden Blasenfunktionsstörung.
- Allergische Reaktionen: Gegen die modernen örtlichen Betäubungsmittel sind nur wenige Menschen allergisch.
- Blutergüsse: Vor dem Spinalkanal liegt ein Geflecht aus Venen, durch das der Arzt die Nadel führen muss. Wird ein Gefäß verletzt, was trotz sorgfältigstem Vorgehen nicht in allen Fällen vermeidbar ist, kann sich ein kleiner Bluterguss bilden. In sehr seltenen Fällen ist eine Hirnblutung sowie eine Ansammlung von Blut unter der das Gehirn umgebenden harten Hirnhaut (subdurales Hämatom) möglich. Bei normaler Blutgerinnung verschließt sich die Wunde ganz schnell. Leidet der Patient jedoch unter einer Blutgerinnungsstörung, kann der Bluterguss so groß werden, dass er auf das Rückenmark Druck ausübt. In diesem sehr seltenen Fall kann sogar eine Operation zur Entlastung des Rückenmarks notwendig werden. Daher wird vor der Spinalanästhesie die Blutgerinnung im Labor untersucht.
- Infektionen: Auf der Haut jedes Menschen lebt eine Vielzahl von Bakterien. Jeder Einstich durch die Haut birgt ein gewisses Risiko für eine Infektion. Bei der Spinalanästhesie kann es durch die Verschleppung von Keimen zu Hirn-, Rückenmark- oder Hirnhautentzündung kommen. Um dies zu verhindern, desinfiziert der Arzt den Bereich der Einstichstelle vor der Punktion sorgfältig und arbeitet grundsätzlich nur mit sterilen Materialien.
Multiple Sklerose und Anästhesie: Besondere Überlegungen
Patienten mit Multipler Sklerose stellen besondere Herausforderungen für Anästhesisten dar.
- Exazerbation der Krankheitssymptome: Trotz fehlender Evidenz wurden alle Anästhesietechniken mit einer Exazerbation der Krankheitssymptome in Verbindung gebracht. Elektive Eingriffe sollten in einer stabilen Krankheitsphase oder nach Beginn der entsprechenden Therapie geplant werden. Generell gilt, dass Stress eine akute MS-Exazerbation verursachen kann. Auch Operationen und Anästhesien können dies u. U.
- Medikamentöse Therapie: Mögliche Nebenwirkungen und Organbeteiligungen, v. a. der immunsuppressiven bzw. -modulierenden Therapie müssen bekannt sein. Viele MS-Therapeutika führen zu Blutbildungsstörungen. Sämtliche immunmodulatorische Substanzen bergen das Risiko akuter Infektionen, häufig sind dabei die Atemwege betroffen.
- Muskelrelaxanzien: Die multiple Sklerose sowie einige der therapeutischen Medikamente führen zu einem veränderten Ansprechverhalten auf Muskelrelaxanzien. Die Demyelinisierung mit der daraus resultierenden pathologischen Impulsweiterleitung, ebenso wie eine Muskelspastik, führt zu einer Hochregulation von Azetylcholinrezeptoren mit einer Resistenz gegenüber nichtdepolarisierenden Muskelrelaxanzien sowie einer Hypersensitivität gegenüber Succinylcholin. Bei der Anwendung von Succinylcholin muss insbesondere bei spastischen Paresen die Möglichkeit einer erhöhten Freisetzung von Kalium berücksichtigt werden.
- Lokalanästhetika: Lokalanästhetika haben ein neurotoxisches Potenzial und sind daher bei Patienten mit vorbestehenden neurologischen Erkrankungen relativ kontraindiziert. Demyelinisierte Neurone bei Patienten mit multipler Sklerose sind wahrscheinlich empfindlicher für die lokalanästhetischen, aber auch die neurotoxischen Effekte. Bei einigen Patienten mit multipler Sklerose, die eine Spinalanästhesie erhalten hatten, konnte postoperativ eine Verschlechterung der Symptomatik festgestellt werden. Es scheint daher ratsam, Lokalanästhetika in niedrigen Dosierungen anzuwenden. Dies gilt auch für periphere Regionalanästhesien, bei denen zum Teil schwerwiegende Plexusschäden nach perineuraler Injektion von 0,5 % Bupivacain beschrieben wurden. Demyelinisierte Nervenfasern reagieren extrem empfindlich auf eine Erhöhung der Körpertemperatur.
- Autonome Dysfunktion: Große Blutdruckschwankungen können auch Ausdruck einer autonomen Dysfunktion sein. Eine engmaschige Blutdruckkontrolle ist daher erforderlich. Einige Substanzen führen zu Bradykardien, die u. U. bradykardisierender Arzneistoffe wie z. B. Opioide verstärkt werden könnten.
- Atemfunktion: Patienten mit respiratorischen Einschränkungen sind von postoperativen pulmonalen Komplikationen bedroht. Durch motorische Einschränkungen der Atemmuskulatur kann es zur Reduktion von max. kommen.
- Schlafapnoe: MS-Erkrankte haben ein erhöhtes Risiko für obstruktive Schlafapnoe (OSAS), seltener zentrale Schlafapnoen, Schlaflosigkeit oder auch Narkolepsie.
Spinalanästhesie bei MS: Kontroverse und Evidenz
Die Frage, ob Spinalanästhesie bei MS-Patienten sicher ist, ist Gegenstand intensiver Diskussionen. Einige Experten befürchten, dass diese Substanzen die MS-Symptomatik verschlechtern könnten. Andere halten das Verfahren bei MS-Patienten für sicher.
- Fallberichte und Studien: Es gibt Fallberichte, die eine Verschlechterung der MS-Symptomatik nach Spinalanästhesie beschreiben. Allerdings gibt es auch Studien, die keine signifikanten Unterschiede zwischen Patienten mit und ohne MS nach rückenmarksnaher Anästhesie gefunden haben.
- Theoretische Bedenken: Es besteht die Sorge, dass Lokalanästhetika die axonalen Erregbarkeit beeinflussen und somit zu Missempfindungen führen können. Weiterhin deuten Studien periphere Myelinschäden bei ca. Auffälligkeiten nachweisen.
Alternativen zur Spinalanästhesie
Bei MS-Patienten sollten alternative Anästhesieverfahren in Erwägung gezogen werden, um das Risiko einer Exazerbation zu minimieren.
- Allgemeinanästhesie: Allgemeinanästhesien sind eine Möglichkeit, Operationen zu ermöglichen. Allerdings sollte beachtet werden, dass auch eine Vollnarkose Auswirkungen auf die MS haben kann.
- Periphere Regionalanästhesie: Da es sich bei MS um eine ZNS-Erkrankung handelt, sollte die Peripherie theoretisch nicht betroffen sein. Periphere Nervenblockaden sind eine Alternative, da sie mit kleineren Lokalanästhetikamengen durchgeführt werden können. Allerdings wurden auch hier in Einzelfällen Komplikationen berichtet.
- Andere Verfahren: In bestimmten Fällen kann auch die Elektrokonvulsionstherapie (EKT) eine Behandlungsoption sein. Sie wird in Allgemeinanästhesie durchgeführt.
Medikamenteninteraktionen bei MS-Patienten
Bei der Anästhesie von MS-Patienten ist es wichtig, die potenziellen Wechselwirkungen zwischen MS-Medikamenten und Anästhetika zu berücksichtigen.
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- Immunmodulatoren: Viele MS-Therapeutika führen zu Blutbildungsstörungen. Einige Substanzen führen zu Bradykardien, die u. U. bradykardisierender Arzneistoffe wie z. B. Opioide verstärkt werden könnten. Auch können sie zu einer QT-Zeit-Verlängerung führen.
- Muskelrelaxanzien: Einige MS-Medikamente können die Wirkung von depolarisierenden und nicht-depolarisierenden Muskelrelaxanzien beeinflussen.
- Antiemetika: Vorsicht ist geboten bei der PONV-Prophylaxe / -Therapie.
Empfehlungen für die Anästhesie bei MS-Patienten
- Sorgfältige Anamnese: Eine sorgfältige Anamnese und Untersuchung des Patienten ist entscheidend, um den Schweregrad der MS und mögliche Komorbiditäten zu erfassen.
- Interdisziplinäre Zusammenarbeit: Eine enge Zusammenarbeit zwischen Anästhesisten, Neurologen und anderen Fachärzten ist wichtig, um die bestmögliche Behandlungsstrategie zu entwickeln.
- Individuelle Risikoabwägung: Die Wahl des Anästhesieverfahrens sollte auf einer individuellen Risikoabwägung basieren, wobei die potenziellen Vorteile und Risiken der Spinalanästhesie gegenüber anderen Alternativen berücksichtigt werden.
- Minimierung von Stress: Generell gilt, dass Stress eine akute MS-Exazerbation verursachen kann. Auch Operationen und Anästhesien können dies u. U. Daher ist es wichtig, Stressfaktoren zu minimieren und eine entspannte Atmosphäre für den Patienten zu schaffen.
- Engmaschige Überwachung: Eine engmaschige Überwachung des Patienten während und nach der Anästhesie ist wichtig, um Komplikationen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln.
- Berücksichtigung von Medikamenteninteraktionen: Es ist wichtig, die potenziellen Wechselwirkungen zwischen MS-Medikamenten und Anästhetika zu berücksichtigen und die Dosierung entsprechend anzupassen.
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