Multiple Sklerose und Sprachstörungen: Ursachen und Therapieansätze

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die Gehirn und Rückenmark betrifft. In Deutschland sind etwa 280.000 Menschen von MS betroffen und weltweit fast drei Millionen. Die Erkrankung manifestiert sich meist im jungen Erwachsenenalter. MS ist eine Erkrankung mit tausend Gesichtern.

Symptome der Multiplen Sklerose

Die Symptome der MS können vielfältig sein und hängen davon ab, welche Bereiche des zentralen Nervensystems betroffen sind. Häufig treten Gefühlsstörungen, Lähmungen, Seh- und Gleichgewichtsstörungen sowie Müdigkeit (Fatigue) auf. Muskelschwäche und verlangsamte Bewegungsabläufe können ebenfalls auftreten, ebenso wie erhöhte Muskelspannung, Verkrampfungen und Steifigkeit der Muskeln (Spastik). Missempfindungen auf der Haut, wie Ameisenkribbeln oder Taubheitsgefühle, sind ebenfalls häufig. Viele MS-Erkrankte leiden unter körperlicher oder psychischer Erschöpfung, extremer Abgeschlagenheit und anhaltender Müdigkeit, dem sogenannten Fatigue-Syndrom. Ein weiteres Kennzeichen kann eine Entzündung des Sehnervs (Optikusneuritis) sein, die sich durch Schmerzen beim Bewegen der Augen und Sehverschlechterung bemerkbar macht. Unkontrollierte Augenbewegungen (Nystagmus) können ebenfalls auftreten.

Die Beschwerden können schubartig oder langsam fortschreitend auftreten, abhängig von der MS-Form. Typischerweise wird die Erkrankung zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr festgestellt, kann aber auch bei Kindern oder im höheren Erwachsenenalter erstmals auftreten.

Formen der Multiplen Sklerose

Es gibt verschiedene Verlaufsformen der Multiplen Sklerose:

  1. Schubförmige MS (RRMS): In etwa drei Viertel aller Fälle tritt die MS in Schüben auf. Zu Beginn der Krankheit ist das bei 85 Prozent der Betroffenen der Fall. Ein Schub ist gekennzeichnet durch das episodische Auftreten und die vollständige oder teilweise Rückbildung (Remission) neurologischer Symptome innerhalb von Tagen bis Wochen. Jeder Schub führt zu einer Beschädigung im zentralen Nervensystem.
  2. Sekundär progrediente MS (SPMS): Bei etwa 15 Prozent der Betroffenen geht die schubförmige MS später in eine sekundär progrediente MS über. Die Symptome zwischen den Schüben bilden sich nicht mehr zurück oder verstärken sich über die Zeit.
  3. Primär progrediente MS (PPMS): Etwa 15 Prozent der Betroffenen haben von Beginn an keine Schübe, sondern eine langsame Zunahme der Beschwerden.

Zusätzlich wird bei jeder Form bewertet, ob sie entzündlich aktiv ist oder nicht.

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Ursachen von Sprachstörungen bei MS

Schluck- und Sprechstörungen spielen oft eine untergeordnete Rolle in der Wahrnehmung von MS-Patienten, obwohl sie häufig vorkommen. Probleme mit dem Schlucken treten bei bis zu 40 % und mit dem Sprechen bei circa 75 % aller MS-Patienten im Laufe der Krankheit auf. Tendenziell spielen Sprech- und Schluckstörungen oft erst im späteren Verlauf eine Rolle. Ein leicht verändertes Sprechen ist zunächst wenig auffällig. Erst wenn die Kommunikation stark in Mitleidenschaft gezogen wird, leidet das Sozialleben und der Handlungsdruck steigt.

Bei Sprechstörungen funktionieren die zum Sprechen benötigten Muskeln und Organe nicht mehr richtig. Die Bandbreite reicht von minimal bis zur absoluten Unverständlichkeit. Man spricht von einer Dysarthrie, wenn Lähmungen oder eine gestörte Koordination der Sprechmuskulatur die Lautbildung erschweren. Falls zusätzlich noch Atmung, Resonanz und Stimmerzeugung betroffen sind, lautet der Fachbegriff Dysarthrophonie. In jedem Fall wird die Kommunikation erschwert, was meist zu weniger Kontakten führt.

Auch bei Sprechstörungen können einzelne Muskeln oder deren Zusammenspiel gestört sein. Wichtig ist zu beachten, dass Medikamente gegen Spastiken Sprechstörungen verschlechtern können.

Ursachen für Sprach-, Sprech- und Schluckstörungen sind Schädigungen von Strukturen der Sprach-, Sprech- oder Schlucksysteme im zentralen oder peripheren Nervensystem, hervorgerufen zum Beispiel durch Multiple Sklerose. Am Sprech- und Schluckvorgang sind viele Muskelgruppen und Gehirnregionen beteiligt. Vielfältige Abläufe müssen koordiniert und das Sprechen und Schlucken mit der Atmung zeitlich in Einklang gebracht werden. Multiple Sklerose kann verschiedene Arten von Sprechstörungen (Dysarthrie) auslösen. Sie treten meist als Mischform in unterschiedlich starker Ausprägung auf und reichen von einer kaum wahrnehmbaren Sprechstörung bis hin zur kompletten Unverständlichkeit beim Sprechen.

Symptome von Sprech- und Schluckstörungen

Konkrete Symptome von Sprechstörungen können sein:

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  • zu leise oder laute Stimme
  • undeutliche Artikulation
  • verwaschene Sprache
  • veränderte Sprechgeschwindigkeit

Konkrete Symptome von Schluckstörungen sind:

  • häufiges Verschlucken
  • erhöhter Speichelfluss
  • Hustenreize
  • eine belegte Stimme
  • wässrige, tränende Augen
  • eine verstärkte Verschleimung
  • Fieber
  • Mangelernährung und Flüssigkeitsverlust
  • mögliche soziale Isolation, da beim Verschlucken auch Nahrung aus Mund oder Nase wieder austreten kann

Bei vielen Betroffenen gelangen Nahrungsbestandteile in die Atemwege. Die Hälfte aller Patienten hustet, die andere Hälfte nicht. Am Schluckvorgang sind ca. 50 Muskelpaare und 5 Hirnnerven beteiligt. Die fünf wichtigen beteiligten Nerven sind der Trigeminus, der Facialis, der Glossopharyngeus, der Vagus und der Hypoglossus. Je nachdem, wo die MS-Läsionen auftreten, funktionieren sie nicht mehr richtig oder ihre sonst völlig unbewusst ablaufende Koordination. Da wir ungefähr einmal pro Minute schlucken, macht das rund 1.000 Mal Schlucken pro Tag.

Eine große Gefahr ist die sogenannte stille Aspiration. Nahrung oder Getränke gelangen in die Luftwege und bei 50% der Betroffenen passiert das still, sprich ohne Hustenanfälle.

Diagnostik von Sprech- und Schluckstörungen

Bei Schluckbeschwerden werden neben allgemeinen Beobachtungen die am Schluckvorgang beteiligten Organe überprüft. Es wird geschaut, ob die Sensibilität ausreichend vorhanden ist und wie der Schluckversuch abläuft. Nach Bedarf werden spezielle Endoskope eingesetzt, um zu überprüfen, ob Speichel, Essen oder Nahrung versehentlich in die Luftwege gelangen.

Zur genauen Diagnostik bei Sprechstörungen gehört ein Überprüfen der Reflexe, der Lippenbewegungen, der Atmung, des Kiefers, des Gaumensegels, der Stimme, der Zunge und der generellen Verständlichkeit.

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Therapie von Sprech- und Schluckstörungen

Ein Logopäde kann Ihnen kompetenten Rat und Hilfe geben, wenn bei Multiple Sklerose Schluckbeschwerden und Sprachstörungen auftreten. Er zeigt Ihnen die richtige Sitz- und Kopfhaltung für das Schlucken sowie geeignete Sprech- und Atemübungen, die Ihnen dabei helfen, die (Sprech-)Muskulatur zu stärken und besser zu kontrollieren. Mithilfe einer konsequenten „Schlucktherapie" werden mit Multiple Sklerose zusammenhängende Schluckbeschwerden oft deutlich gebessert.

Ganz konkret können Schluckbeschwerden zu häufigen Husten- und Erstickungsanfällen während dem Essen und Trinken führen. Eventuell fließt auch Nahrung in die Nase. Der Speichelfluss kann erhöht sein. Auch eine öfter auftretende „gurgelnde“ Stimme nach dem Essen oder ein Fremdkörpergefühl beim Schlucken können durch eine neurogene Schluckstörung ausgelöst werden.

Ziel der Therapie ist, dass die Sprache besser verständlich wird und man somit wieder leichter mit anderen kommunizieren kann. Falls die Atmung betroffen ist, wird sie ebenfalls trainiert. Bei Schluckproblemen geht es darum, das eigentliche Schlucken zu verbessern, damit regelmäßig und ausreichend Nahrung und Flüssigkeit aufgenommen werden kann. Dem Verschlucken soll vorgebeugt werden.

Konkrete Maßnahmen und Tipps:

  • Allgemein:
    • Such Dir frühzeitig professionelle Hilfe beim Logopäden und vermeide dadurch negative Auswirkungen auf Deine Gesundheit und Dein Sozialleben.
    • Nutze die erlernten Techniken und Übungen auch privat.
    • Lasse auch all Deine anderen MS-Symptome wie Fatigue, Tremor oder Spastiken behandeln.
  • Beim Essen und Trinken:
    • Sitze aufrecht und mit erhobenem Kopf.
    • Iss wenig Süßspeisen und Milchprodukte, sie regen den Speichelfluss an.
    • Lass Dir Zeit beim Essen, Trinken und Sprechen.
    • Sie können Dir helfen, Flüssigkeiten ohne Verschlucken zu trinken.
    • Beachte die Konsistenz, sie ist ein entscheidender Faktor. Vermeide Nahrungsmittel, die trocken, klein, körnig, zäh, reizend oder scharf sind. Sie erhöhen die Gefahr von Schluckbeschwerden.
    • Verzichte auf Kräuter, Fasern und Garnituren und auf Mischkost.
    • Ein feiner, homogener, nicht klebriger Brei ist ideal, ebenso weiche Speisen.
    • Lass beim Trinken den Kopf nahe der Brust, statt ihn nach hinten zu beugen.
    • Bleib nach dem Essen noch mindesten 20 Minuten sitzen und führe anschließend eine gründliche Mundpflege durch.
  • Bei Sprechstörungen:
    • Bei Sprechstörungen steht die Verhaltensänderung an oberster Stelle. Du trainierst Deine Sprechgeschwindigkeit, Deine Stimmlage und Deine Körperhaltung, aber auch die Lautbildung. Außerdem wird Dir beigebracht, kurze Sätze zu verwenden.
    • Anfangs geht es darum, dass Du Deine Defizite bewusst wahrnimmst, um anschließend gezielt an ihnen zu arbeiten. Dabei wird die Beweglichkeit Deiner Sprechorgane trainiert, also von Zunge, Lippen und Unterkiefer und deren Bewegungen.
    • Wusstest Du, dass beim Sprechen ca. 100 Muskeln aktiv sind? All diese Muskeln können gekräftigt und mobilisiert werden. Dabei kommt der Atmung eine besondere Rolle zu, denn ohne genug Puste, klappt Sprache einfach nicht.
    • Vielleicht spricht Dich eine Gruppentherapie an. Dort kannst Du Dich mit Gleichgesinnten austauschen und vor allem lernen zu argumentieren und zu diskutieren. Egal ob Du eine bestimmte Rolle einnimmst, die Kommunikation zeitweise leitest oder Deine Krankheit verarbeitest, am Ende trainierst Du den Austausch mit anderen und das ist sehr gut.
    • Falls die Problematik bei Dir besonders fortgeschritten ist, übt der Logopäde die nonverbale Kommunikation mit Dir, sprich Mimik und Gestik. Darüber hinaus kommen technische Unterstützungsmöglichkeiten hinzu, wie schriftbasierte Kommunikationsmittel, Sprachverstärker oder Sprachcomputer bzw. verschiedene Apps.
  • Schlucktherapie:
    • Die konkrete Schlucktherapie hängt von der genauen Ursache ab. So kannst Du Übungen für Zunge und Lippen nutzen oder Dein Schluckreflex bewusst stimuliert werden.

Weitere Therapieansätze bei MS

Neben der Behandlung von Sprach- und Schluckstörungen gibt es weitere Therapieansätze, um die MS zu beeinflussen:

  • Akuttherapie: Bei einem Schub hilft zunächst Cortison als Infusion oder Tablette, um die Beschwerden schneller abklingen zu lassen. Seltener kann auch eine Blutwäsche zur Anwendung kommen, um jene körpereigenen Immunzellen zu entfernen, die die Entzündung verursachen.
  • Immuntherapie: Die Immuntherapie beeinflusst bei MS das fehlgesteuerte Immunsystem, indem sie dieses verändert (immunmodulierend) oder dämpft (immunsuppressiv). Am wirksamsten sind speziell entwickelte Antikörper. Mittlerweile gibt es gut 20 Immuntherapie-Mittel, einige davon auch für die sekundär oder primär progrediente MS.
  • Physiotherapie: Physiotherapie spielt eine tragende Rolle, um die körperliche Leistungsfähigkeit zu erhalten oder zu verbessern. Die Behandlung fördert Kraft und Koordination, Stand- und Gang- und Handfunktionen. Sie mindert Spastik und Schmerzen, verbessert Gleichgewicht und Bewegungsabläufe und erhöht so die Belastbarkeit im Alltag.
  • Ergotherapie: Ergotherapie trainiert zielgerichtet, individuell und symptomorientiert die Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL = Activity of Daily Living): Waschen, Ankleiden, Toilettengänge, Essen und Trinken, Schreiben, Arbeiten im Haushalt.
  • Psychotherapie: Die psychologische Behandlung zielt vor allem darauf ab, gemeinsam mit dem Betroffenen schrittweise einen Weg zu finden, der eine Brücke zwischen den durch MS verursachten Schwierigkeiten auf der einen Seite sowie den persönlichen Lebenszielen auf der anderen Seite schlagen kann.

Leben mit MS

Im täglichen Leben gibt es einiges, dass die Multiple Sklerose günstig beeinflussen kann. Ein wesentliches Element ist regelmäßige körperliche Aktivität. Ein Spaziergang oder eine Wanderung, eine Fahrradtour oder ähnliche Aktivitäten im Freien haben außerdem gleich mehrere positive Effekte: Man bewegt sich und kann schon durch kurzen, aber regelmäßigen Aufenthalt in der Sonne etwas gegen einen Vitamin-D-Mangel tun. Aber auch gezieltes Training ist wichtig. Ein weiterer wichtiger Baustein, den jeder selbst in der Hand hat, ist die Umstellung auf eine gesunde Ernährung. Selbst zubereitete Mischkost mit viel Obst und Gemüse, Fisch und Vollkornprodukten, aber wenig Zucker und Salz, tierischen Fetten und Zusatzstoffen (wie in verarbeiteten Lebensmitteln) hat positive Effekte. Zudem sollten Menschen mit Multipler Sklerose nicht rauchen.

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