Multiple Sklerose und Cannabis: Wirkung, Anwendung und aktuelle Forschungslage

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die weltweit Millionen Menschen betrifft. Viele Betroffene leiden unter Symptomen wie Spastiken, Schmerzen und Erschöpfung, die mit herkömmlichen Therapien oft schwer zu behandeln sind. Medizinisches Cannabis rückt daher zunehmend in den Fokus als ergänzende Behandlungsoption. Dieser Artikel beleuchtet die Wirkung von Cannabis bei MS, die verschiedenen Anwendungsformen, die aktuelle Forschungslage und die rechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland.

Was ist Multiple Sklerose?

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem die Schutzhülle der Nervenfasern (Myelinscheiden) im Gehirn und Rückenmark angreift. Dies führt zu Entzündungen und Vernarbungen, die die Nervenleitgeschwindigkeit beeinträchtigen. Die genaue Ursache von MS ist bis heute nicht vollständig geklärt, jedoch spielen genetische Veranlagung, Umweltfaktoren wie Virusinfektionen und Vitamin-D-Mangel sowie der Lebensstil eine Rolle.

Die Symptome der MS sind vielfältig und können je nach betroffenem Bereich des Nervensystems stark variieren. Häufige Symptome sind:

  • Spastiken (Muskelsteifheit und -krämpfe)
  • Schmerzen (insbesondere neuropathische Schmerzen)
  • Sensibilitätsstörungen (Taubheit, Kribbeln)
  • Sehstörungen
  • Koordinationsprobleme
  • Ermüdbarkeit (Fatigue)
  • Blasen- und Darmfunktionsstörungen
  • Depressive Verstimmungen

Die Diagnose von MS erfolgt in der Regel durch eine Kombination aus klinischer Untersuchung, Magnetresonanztomographie (MRT), Liquordiagnostik und elektrophysiologischen Tests. Es gibt verschiedene Verlaufsformen der MS, darunter die schubförmig-remittierende MS (RRMS), die sekundär progrediente MS (SPMS), die primär progrediente MS (PPMS) und die benigne MS.

Medizinisches Cannabis bei MS: Ein Überblick

Medizinisches Cannabis bezeichnet Arzneimittel auf Basis der Cannabispflanze, die bestimmte Anforderungen an Qualität und Reinheit erfüllen. Die Hauptwirkstoffe der Cannabispflanze sind die Cannabinoide, insbesondere Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD). Diese ähneln körpereigenen Endocannabinoiden und wirken auf das Endocannabinoid-System (ECS) im Körper.

Lesen Sie auch: MS-Medikamente im Detail erklärt

Das Endocannabinoid-System ist ein Teil des Nervensystems und spielt eine wichtige Rolle bei der Regulierung verschiedener physiologischer Prozesse, darunter Schmerz, Entzündungen, Muskelspannung, Stimmung und Schlaf. Cannabinoide können an Cannabinoid-Rezeptoren (CB1 und CB2) im Gehirn, Rückenmark und Immunsystem binden und dadurch unterschiedliche Wirkungen entfalten.

  • THC wirkt vorrangig schmerzlindernd, krampflösend und stimmungsaufhellend, kann aber auch euphorisierend wirken.
  • CBD ist nicht berauschend und wirkt entzündungshemmend, neuroprotektiv und angstlösend.

Wirkung von Cannabis auf MS-Symptome

Studien und Erfahrungsberichte deuten darauf hin, dass Cannabinoide gezielt MS-Symptome lindern können.

Spastik

Über 80 % der MS-Betroffenen leiden unter Spastiken, schmerzhaften Muskelverkrampfungen, die Bewegungen einschränken. Mehrere placebokontrollierte Studien zeigen, dass Cannabispräparate wie Nabiximols (z.B. Sativex®) signifikant die Spastik reduzieren und gleichzeitig die Schlafqualität verbessern können. Eine Studie von John Zajicek und Mitarbeitern untersuchte die Effekte von oralen Cannabinoiden auf Spastik bei 630 MS-Patienten. Obwohl das Hauptergebnis keine signifikante Verbesserung der Spastik zeigte, berichteten 60 % der mit Cannabisextrakt behandelten Patienten von subjektiv wahrgenommenen Verbesserungen im Vergleich zu 46 % der Placebogruppe.

Eine Cochrane-Studie aus dem Jahr 2022 analysierte 25 Studien und kam zu dem Schluss, dass Cannabis die Schwere der Spastik bei MS-Patienten wahrscheinlich um mindestens 30 % verbessern kann. Die subjektiv wahrgenommene Schwere der Spastik wurde anhand einer numerischen 10-Punkte-Ratingskala gemessen.

Schmerzen

MS geht häufig mit neuropathischen Schmerzen einher, die durch Nervenschäden verursacht werden. Diese Schmerzen sprechen oft schlecht auf klassische Schmerzmittel an. Cannabinoide beeinflussen Schmerzrezeptoren im Gehirn und Rückenmark und können dadurch Schmerzsignale abschwächen. Eine randomisierte, doppelblinde, placebokontrollierte Studie aus dem Jahr 2005 zeigte, dass die Einnahme von durchschnittlich 26 mg THC (Nabiximol) pro Tag zu einer 41%igen Reduktion der Schmerzen führte (gegenüber einer 22%igen Reduktion in der Placebogruppe).

Lesen Sie auch: Wie man MS vorbeugen kann

Weitere Symptome

Viele Patienten berichten auch von einer positiven Wirkung von Cannabis auf die chronische Erschöpfung (Fatigue) sowie auf depressive Verstimmungen. Studien aus Israel, bei denen CBD an Mäusen mit MS-ähnlichen Symptomen getestet wurde, berichten von einer Reduktion entzündlicher Prozesse und einer Verbesserung der Mobilität.

Anwendungsformen von medizinischem Cannabis

Medizinisches Cannabis ist in verschiedenen Formen erhältlich:

  • Cannabisblüten: Die Blüten sind in verschiedenen Sorten verfügbar und zeichnen sich durch unterschiedliche Gehalte an THC und CBD aus. Die Blüten können schonend verdampft (z.B. mittels Vaporizer) inhaliert oder zu Extrakten weiterverarbeitet werden.
  • Cannabisextrakte: Die Gewinnung erfolgt aus den Blüten, wobei eine Verabreichung als Öle oder andere Darreichungsformen möglich ist. Vorteilhaft ist hierbei die kontrollierbare Dosierung.
  • Fertigarzneimittel: In Deutschland ist Sativex® als Cannabinoid-basiertes Arzneimittel speziell für MS zugelassen. Es wird zur symptomatischen Therapie der Spastik verwendet und enthält eine Kombination aus THC und Cannabidiol (CBD) als Mundspray. Im Unterschied zu Cannabisblüten wirkt Sativex® nicht oder nur wenig berauschend und macht auch nicht abhängig.

Die Auswahl des geeigneten Präparats hängt vom Symptombild, der gewünschten Wirkung und dem individuellen Verträglichkeitsprofil ab. Besonders wirksam bei MS haben sich Kombinationen aus THC und CBD im Verhältnis von 1:1 oder 2:1 gezeigt.

Rechtliche Rahmenbedingungen in Deutschland

In Deutschland ist der Einsatz von Cannabis zu medizinischen Zwecken seit 2017 erlaubt. Das "Cannabisgesetz", Paragraf 31 (6) SGB V, regelt den Zugang zu Cannabisarzneimitteln für Patienten mit schwerwiegenden Erkrankungen, darunter auch MS-Patienten mit Spastik. Seit dem 1. April 2024 können Ärzte medizinisches Cannabis per elektronischem Rezept - wie andere Arzneimittel auch - verordnen. Mit der Teil-Legalisierung von Cannabis unterliegt die Verordnung von Cannabisarzneimitteln nicht länger dem Betäubungsmittelgesetz.

Die Kosten für medizinisches Cannabis werden von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen, sofern eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt, andere Therapien nicht ausreichend wirksam oder verträglich sind und eine Aussicht auf Besserung durch Cannabinoide besteht. Für die Erstverordnung durch bestimmte Fachärzte ist seit 2024 keine Genehmigung der Krankenkasse mehr erforderlich. Allerdings prüft die Kasse (der MDK) vor der allerersten Verordnung, ob der Patient Anspruch auf eine Versorgung damit hat, insbesondere bei Schmerzen.

Lesen Sie auch: MS und Rückenschmerzen: Ein Überblick

Nebenwirkungen und Risiken

Wie jedes Medikament kann auch medizinisches Cannabis Nebenwirkungen verursachen. Häufige Nebenwirkungen sind:

  • Müdigkeit
  • Schwindel
  • Mundtrockenheit
  • Konzentrationsstörungen

Diese sind meist mild und vorübergehend. In seltenen Fällen können psychiatrische Symptome wie Angst oder Halluzinationen auftreten, insbesondere bei höheren Dosen von THC.

Es ist wichtig zu beachten, dass Cannabis die Aufmerksamkeit beeinträchtigen kann. Das Lenken von Fahrzeugen oder Maschinen unterliegt dem eigenen Ermessen, jedoch kann eine Kontrolle ein "Zuviel" ergeben, da Cannabinoide mehrere Tage im Blut nachweisbar sind. Alkohol und Cannabinoide verstärken sich gegenseitig in ihrer Wirkung und Nebenwirkung.

Aktuelle Forschungslage und Ausblick

In den letzten Jahren hat die Forschung um Cannabis als Arzneimittel bei MS deutlich an Fahrt aufgenommen. Viele Studien belegen die Wirksamkeit von medizinischem Cannabis bei MS, insbesondere zur Behandlung von Spastik und Schmerzen. Nichtsdestotrotz sind einzelne Fallberichte immer noch zahlreicher als hochwertige und placebo-kontrollierte Studien.

Das Krankheitsbezogene Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS) und die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) sprechen sich grundsätzlich für eine Rückkehr zum Prinzip der evidenzbasierten Medizin (EbM) für die auf dem deutschen Markt vertriebenen und verordnungsfähigen Cannabis-haltigen Arzneimittel aus. Sie fordern systematische Studien, um verlässliche Daten zu Wirksamkeit und Verträglichkeit zu erhalten.

Die Hersteller von medizinischen Cannabisprodukten werden explizit aufgefordert, nicht nur Stellungnahmen und Qualifizierungsoffensiven zu unterstützen, sondern auch die systematische Erhebung von Daten zu ihren Produkten in randomisierten kontrollierten Studien und Patientenregistern vorzunehmen.

tags: #multiple #sklerose #und #cannabis #wirkung