Chronische Schmerzen, insbesondere Nervenschmerzen, stellen eine erhebliche Belastung für die Betroffenen dar und sind eine der größten gesundheitlichen Herausforderungen weltweit. Über 1,5 Milliarden Menschen leiden darunter - mehr als an Diabetes, Herzkrankheiten und Krebs zusammen. Die Behandlungsmöglichkeiten sind oft begrenzt und mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden. Dieser Artikel beleuchtet neue Medikamente und Therapieansätze, die Hoffnung auf eine wirksamere und verträglichere Schmerzlinderung bei Nervenschmerzen und anderen chronischen Schmerzzuständen bieten.
Was sind Nervenschmerzen?
Nervenschmerzen, auch neuropathische Schmerzen genannt, unterscheiden sich von anderen Schmerzarten, die infolge einer Gewebeschädigung entstehen. Sie entstehen als direkte Folge einer Schädigung von Gefühlsnerven. Zu den Nervenschmerzen zählt z.B. die Trigeminusneuralgie mit einschießenden, teils elektrisierenden Gesichtsschmerzen oder die diabetische Polyneuropathie, eine durch die Zuckerkrankheit bedingte Schädigung vieler kleiner Nerven zumeist an Füßen und Unterschenkeln. Nervenschmerzen werden häufig als elektrisierend, einschießend oder brennend beschrieben.
Herausforderungen bei der Behandlung von Nervenschmerzen
Die Behandlung von Nervenschmerzen gestaltet sich oft schwierig, da sie auf herkömmliche Schmerzmittel wie NSAR und Coxibe nicht gut ansprechen. Bisher gelten Opioide als Standardtherapie. Diese Mittel sind allerdings aufgrund ihres hohen Suchtpotenzials und ihrer teils schweren Nebenwirkungen wie chronischer Verstopfung oder Schlafstörungen umstritten. In Deutschland werden sie dennoch jährlich über 18 Millionen Mal verschrieben.
Konventionelle medikamentöse Behandlungen von Nervenschmerzen
Zur Behandlung von Nervenschmerzen werden andere Medikamente eingesetzt als beim Gewebeschmerz. Es hat sich gezeigt, dass Medikamente, die eigentlich zur Behandlung anderer Erkrankungen entwickelt worden sind, bei Nervenschmerzen sehr wirksam sein können. Hierzu zählen beispielsweise Medikamente gegen epileptische Anfälle (sog. Antikonvulsiva) oder Medikamente gegen Depressionen (sog. Antidepressiva). Diese Medikamente werden in der Regel in Tablettenform eingenommen und greifen beruhigend in die Funktion der Nervenzellen ein. Sie beeinflussen die Aktivität der Nervenzellen und der schmerzleitenden Nervenbahnen. Sie normalisieren die für neuropathische Schmerzen typischen Veränderungen und Störungen der Nervenfunktion.
Antikonvulsiva (z.B. Gabapentin und Pregabalin), sowie Antidepressiva (z.B. Amitriptylin oder Duloxetin) werden daher bei neuropathischen Schmerzerkrankungen nicht gegen Depression und Anfälle, sondern gezielt zur Schmerzlinderung eingesetzt. Die Wirkung entsteht durch eine Hemmung der Schmerzweiterleitung im Rückenmark. Die zuvor genannten Antikonvulsiva und Antidepressiva können jahrelang eingenommen werden, ohne dass bleibende Organschäden entstehen. Allerdings können alle diese Medikamente Nebenwirkungen haben, die zumeist im Gehirn ausgelöst werden. Am häufigsten kann es zu Müdigkeit, Schwindel und manchmal Gedächtnisstörungen kommen. Glücklicherweise verschwinden diese Nebenwirkungen regelhaft mit der Zeit oder bei Reduktion der eingenommenen Medikamentenmenge.
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Lokale und Oberflächliche Behandlungen
Es gibt auch die Möglichkeit, einige Formen von Nervenschmerzen mit örtlicher und oberflächlicher Behandlung am Schmerzort zu therapieren. Die Medikamente werden dann in Form eines Pflasters oder als Creme auf die Haut aufgebracht, um bestimmte Bestandteile der Nervenzelloberfläche zu beeinflussen und die Schmerzentstehung oder -weiterleitung zu verhindern. Hierzu zählt das Medikament Lidocain, ein örtliches Betäubungsmittel - wie es auch der Zahnarzt in einer Spritze zur Betäubung verwendet. Ein andersartiges Pflaster enthält den Wirkstoff Capsaicin. Der Wirkstoff Capsaicin wird aus der Chilischote gewonnen und ist für die Schärfe mancher Speisen verantwortlich. Capsaicin kann nach Pflasterbehandlung auf der Haut dazu führen, dass sich geschädigte Nervenfasern aus der betroffenen Haut zurückziehen und damit die Nervenschmerzen in diesem Bereich für 2-3 Monate verschwinden. Danach wachsen die Nervenfasern wieder nach. Bei Wiederauftreten der Schmerzen kann dann erneut ein Capsaicin-Pflaster geklebt werden. Diese Form der Behandlung ist besonders dann sinnvoll, wenn es einen kleinen oberflächlichen Schmerzbereich gibt, etwa bei einem Nervenschmerz nach einer Gürtelrose, der auch als postherpetische Neuralgie bezeichnet wird.
Opioide als Ultima Ratio
Lassen sich Nervenschmerzen durch die zuvor genannten Medikamente nicht ausreichend behandeln, können mittelstark oder stark wirksame Schmerzmittel aus der Gruppe der Opioide zum Einsatz kommen. Diese Medikamente sind mit Morphin verwandt, einem Medikament, das sich vom Schlafmohn herleitet. An den Opioiden ist besonders, dass sie sowohl bei Gewebeschmerzen wie auch bei Nervenschmerzen wirken.
Neue Therapieansätze und Medikamente
Suzetrigin: Ein selektiver Natriumkanal-Blocker
Ein vielversprechender neuer Ansatz ist Suzetrigin (VX-548), ein niedermolekularer, oral verfügbarer Vertreter einer potenziellen neuen Wirkstoffklasse. Die US-Arzneimittelbehörde FDA ließ das Mittel Suzetrigin (Handelsname: Journavx; Hersteller: Vertex) gegen moderate bis starke akute Schmerzen bei Erwachsenen zu. Es hemmt selektiv den spannungsabhängigen Natriumkanal NaV1.8, der ausschließlich in peripheren nozizeptiven Neuronen exprimiert wird. Dieser Mechanismus ermöglicht eine Schmerzhemmung, ohne das zentrale Nervensystem zu beeinträchtigen. Als selektiver NaV1.8-Antagonist wirkt Suzetrigin ausschließlich peripher und nicht im zentralen Nervensystem, daher geht man von weniger Nebenwirkungen und einem geringeren Abhängigkeitspotenzial als bei den zentral wirksamen Opioiden aus. Der Schmerz soll geblockt werden, bevor er Rückenmark und Gehirn erreicht.
Klinische Studien mit Suzetrigin
Vertex stellte die Ergebnisse aus insgesamt drei Phase-III-Studien vor: zwei randomisierte, doppelblinde, placebo- und verumkontrollierte Studien sowie eine einarmige Sicherheits- und Wirksamkeitsstudie. In den ersten beiden Studien konnte Suzetrigin die Schmerzen innerhalb von 48 Stunden nach dem Eingriff schneller und stärker senken als Placebo. Im Vergleich zu Hydrocodon/Paracetamol schnitt der neue Wirkstoff jedoch nicht besser beziehungsweise schlechter ab. In allen drei Studien sei der Wirkstoff gut vertragen worden, teilt der Hersteller mit. Unerwünschte Wirkungen seien überwiegend leicht bis mittelschwer gewesen und die Rate vergleichbar mit Placebo. Es kam zu Übelkeit, Verstopfung, Kopfschmerzen, Benommenheit und niedrigem Blutdruck.
Potenzial und Ausblick für Suzetrigin
Suzetrigin hat nicht die gefürchteten Nebenwirkungen von Opioiden wie den starken Schmerzmitteln Codein, Oxycodon oder Fentanyl. Die seit Langem in den USA herrschende Opioidkrise macht das neue Medikament potenziell umso relevanter. Da das neue Medikament nicht im Gehirn wirkt, ist ein geringeres Abhängigkeits- und Suchtpotential zu erwarten. Auch andere unerwünschte Wirkungen, die gerade ältere Patienten bei einer Opioid-Therapie belasten, wie Verstopfung, Schläfrigkeit oder erhöhte Sturzgefahr, gehören nicht zu den bekannten Nebenwirkungen von Suzetrigin.
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Der Hersteller prüft, ob Suzetrigin auch bei chronischen Schmerzen eingesetzt werden kann. „Besonders interessant finde ich mögliche Anwendungen bei Nervenschmerzen, die durch eine Schädigung des Nervengewebes verursacht werden“, sagt Prof. Rittner. „Bei diesen Nervenschmerzen werden meist Antiepileptika, Antidepressiva und Opioide verschrieben, die nicht immer eine Schmerzlinderung bewirken.“ Laut Hersteller läuft eine Phase-III-Studie - also eine groß angelegte Studie zur Wirksamkeit - zur Behandlung von neuropathischen Schmerzen bei diabetischer Neuropathie.
VER-01: Ein Cannabinoid-basiertes Schmerzmittel
Das Münchener Biopharmaunternehmen Vertanical hat ein Alternativmedikament entwickelt: das Cannabinoid-basierte Schmerzmittel VER-01. Nach acht Jahren Forschung steht es kurz vor der Zulassung. In zwei großangelegten Phase-III-Studien erzielte VER-01 eine deutliche Schmerzlinderung bei Patienten mit chronischen Kreuzschmerzen - der weltweit häufigsten Form chronischer Schmerzen. Neben einer verbesserten Mobilität und Schlafqualität zeigten die Patienten keine Anzeichen von Abhängigkeit oder Entzugssymptomen.
Cannabis als Medizin
Cannabis als Medizin ist seit März 2017 in Deutschland zugelassen - für die Therapie schwerer Erkrankungen, bei denen bisherige Behandlungsmöglichkeiten nicht mehr oder nicht ausreichend wirken. Verabreicht werden überwiegend Blüten, Öle und Tropfen und sogenannte Rezepturarzneimittel auf Basis des Cannabisinhaltsstoffs THC. Zu denken gibt allerdings, dass VER-01 in einer Studie zwar den Wert auf der zehnteiligen Rückenschmerz-Skala von 6,1 auf 4,0 senkte. Doch das Placebo senkte den Wert ebenfalls auf 4,7.
Potenzial und Ausblick für VER-01
Das neuartige Medikament könnte bereits im Juli zugelassen werden. Laut Dr. Clemens Fischer, Gründer von Vertanical, soll es unter dem Handelsnamen Exilby zunächst in Deutschland und Österreich erhältlich sein, weitere europäische Länder sollen folgen. In den USA startet in Kürze eine weitere Phase-III-Studie, um die Zulassung auch dort zu sichern. Zudem plant Vertanical, VER-01 für weitere Schmerzindikationen wie neuropathische Schmerzen zu testen.
RTX (Resiniferatoxin): Ein Wirkstoff aus dem Wolfsmilchgewächs
Neben selektiven Natriumkanal-Hemmern wie Suzetrigin hat sich dabei ein Wirkstoff in den Vordergrund gespielt, der sonst im Wolfsmilchgewächs Euphorbia resiniferae vorkommt: RTX (Resiniferatoxin). Er ist bis zu 100 Mal schärfer als der Chili-Scharfstoff Capsaicin. Doch mittlerweile haben ihn Forscher für den Menschen verträglich gemacht, ohne dass er seine Wirksamkeit - er hemmt bestimmte Schmerzrezeptoren, wirkt also dort, wo das Schmerzsignal entsteht - verliert.
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Neurostimulation: Ein moderner Therapieansatz
Die Neurostimulation ist eine moderne Therapiemethode bei chronischen Schmerzen. Ein Neurostimulator, implantiert unter die Haut, sendet elektrische Impulse an Nerven im Schmerzbereich. Diese überlagern Schmerzsignale, sodass sie als angenehmes Kribbeln wahrgenommen werden. Patientinnen und Patienten haben oft Kontrolle über die Therapie und können die Impulsstärke anpassen. Der neue Neurostimulator kann seine elektrischen Impulse automatisch an die Bewegungen und Aktivitäten der zu behandelnden Person anpassen. Die Implantation erfolgt minimalinvasiv und erfordert nur einen kurzen Krankenhausaufenthalt.
Weitere vielversprechende Ansätze
Herzratenvariabilitäts-Biofeedback
Ein neuerer Ansatz zur Behandlung chronischer Schmerzen ist das so genannte Herzratenvariabilitäts-Biofeedback. Dahinter verbirgt sich die Erkenntnis, dass Menschen umso besser mit Schmerzen zurechtkommen, je flexibler ihr Herzschlag darauf reagieren kann. Das Problem ist jedoch, dass man die Herzarbeit in der Regel nicht willentlich beeinflussen kann, weil sie vom autonomen Nervensystem gesteuert wird. Es sei denn, dass man dies im so genannten Biofeedback trainiert. Der Übende sieht dabei auf einem EKG-Monitor seinem Herzen bei der Arbeit zu, sodass er lernen kann, wie er sie mit seinem Verhalten oder auch mit seinen Gedanken beeinflussen kann. „Das Herzratenvariabilitäts-Biofeedback hat sich bereits bei körperlichen Erkrankungen sowie Ängsten und Depressionen als wirksam gezeigt“, berichtet Alexandra Martin von der Bergischen Universität in Wuppertal. „Aber auch bei chronischen Schmerzen gibt es erste Belege für die positive Wirkung des Herzratenvariabilitäts-Biofeedbacks.“
Die Bedeutung von Erwartungen und Schmerzgedächtnis
Der Schmerz entsteht nicht nur auf der Ebene von Rezeptoren und Ionenkanälen, sondern auch im Gehirn, wo er gleich in mehreren Arealen verarbeitet wird. Das dabei auch Gefühle wie etwa Hoffnungen und Ängste mitspielen, liegt nahe. Dies bestätigt eine aktuelle Studie der Universität Duisburg-Essen. Hier erhielten Testpersonen parallel zu einem Hitzereiz am Unterarm ein elektronisches Signal, das ihnen entweder als schmerzverstärkend oder schmerzlindernd erklärt wurde. Nur, dass es in Wahrheit weder das eine noch das andere war. Nichtsdestoweniger hatten beide einen starken Effekt auf die Schmerzwahrnehmung, und der ließ sich sogar noch eine Woche nach dem Experiment feststellen. Allerdings verstärkten die negativen Erwartungen den Hitzeschmerz - auf einer Skala von 0 bis 100 - um 11 Punkte, während die positive Annahme ihn nur um rund vier Punkte reduzierte.
Claudia Sommer und ihr Team forschen schon seit geraumer Zeit zu der Frage: „Was machen die Menschen richtig, bei denen die Schmerzen nicht chronisch werden, sondern weggehen?“ Dabei geht es auch darum, wie man die Ausbildung synaptischer Verbindungen im Gehirn verhindern kann, durch die der Schmerz als dauerhaftes Reaktionsmuster verankert wird. Oft wird dieser Prozess auch als „Schmerzgedächtnis“ bezeichnet. Doch Sommer ist nicht glücklich mit diesem Begriff: „Denn oft sagen uns die Patienten, dass sie wegen ihres Schmerzgedächtnisses nichts gegen ihren Schmerz tun können.“ Tatsache sei jedoch, dass man die Schmerzbahnen im Gehirn durchaus „überschreiben“ kann.
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