Die Neuropädiatrie, oder Kinderneurologie, ist ein hochspezialisiertes Gebiet der Medizin, das sich mit der körperlichen und geistigen Entwicklung sowie den möglichen Störungen und Erkrankungen des Nervensystems bei Kindern und Jugendlichen befasst. Gehirn, Rückenmark, Nerven und Muskeln können durch verschiedene Einflüsse beeinträchtigt werden, was die optimale Entwicklung gefährden kann. In Hessen leben schätzungsweise 50.000 Kinder mit neurologischen Erkrankungen. Etwa die Hälfte davon wurde in Hessen geboren. Diese Zahl basiert auf den Geburtenraten in Hessen über 18 Jahre und der Inzidenz neurologischer Krankheiten bei Kindern in Deutschland. Dank Fortschritten in der Kinderheilkunde, insbesondere in der Neonatologie, Intensivmedizin, pädiatrischen Kardiologie, Onkologie und Transplantationsmedizin, steigen die Heilungsraten kontinuierlich. Jedoch weisen viele Kinder, die schwere Erkrankungen überleben, neurologische Symptome auf.
Was ist ein Neuropädiater?
Ein Neuropädiater ist ein auf die Entwicklung und Erkrankungen des Nervensystems spezialisierter Kinder- und Jugendarzt. Nach dem Medizinstudium und der Facharztausbildung in der Kinder- und Jugendmedizin absolvieren Neuropädiater eine mindestens dreijährige spezialisierte Weiterbildung. In dieser Zeit erwerben sie fundierte Kenntnisse über Untersuchungsmethoden und Behandlungsverfahren des Nervensystems, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und sammeln spezialisierte Erfahrungen in der Erstellung von Behandlungsplänen.
Aufgaben der Neuropädiatrie
Die Neuropädiatrie umfasst ein breites Spektrum von Aufgaben, von der Beurteilung der Entwicklung bis zur Behandlung spezieller und seltener Erkrankungen. Drei hervorgehobene Gebiete sind die Entwicklungsneurologie, der Bereich der Bewegungsstörungen und die Behandlung von Anfallserkrankungen (Epilepsien).
Entwicklungsneurologie
Die Entwicklungsneurologie beurteilt die körperliche und geistige Entwicklung von gesunden und kranken Kindern, einschließlich des voraussichtlichen weiteren Verlaufs. Individuelle Behandlungskonzepte erschließen umfassende Fördermöglichkeiten durch Krankengymnastik, Sprachförderung, Ergotherapie und Pädagogik. Nach der Ursachenklärung entwickeln Neuropädiater in Zusammenarbeit mit Physiotherapeuten individuelle Behandlungskonzepte, die Medikamente und gelegentlich Operationen einschließen können, um schmerzfreie Beweglichkeit zu erreichen und die Lebensqualität zu verbessern.
Epileptologie
Ein besonderer Schwerpunkt der Neuropädiatrie ist die Untersuchung und Behandlung von Krampfanfällen, die Epileptologie. Harmlose Fieberkrämpfe gehören zu den häufigsten Notfällen in der Kinderheilkunde. Die Beurteilung akuter Krampfanfälle mit Ursachenklärung und Einschätzung des weiteren Verlaufes hinsichtlich der Entwicklung einer chronischen Anfallskrankheit (Epilepsie) sowie die Behandlung gehören in die Verantwortung der Neuropädiatrie. Aus der Palette wirksamer Medikamente muss das für das einzelne Kind passende ausgewählt und die Behandlung fortlaufend überwacht werden. Manchmal muss der Nutzen einer Operation erwogen werden.
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Häufige Krankheitsbilder in der Neuropädiatrie
Die Neuropädiatrie behandelt ein breites Spektrum neurologischer Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Einige der häufigsten Krankheitsbilder sind:
- Entwicklungsstörungen: Diese können sich in verschiedenen Bereichen zeigen, wie z.B. Sprache, Motorik oder Kognition.
- Epilepsie: Eine Hirnerkrankung, die mit Krampfanfällen einhergeht. Ein sehr häufiges Symptom neurologischer Erkrankungen sind epileptische Anfälle.
- Kopfschmerzen: Hierzu zählen Migräne und Spannungskopfschmerzen.
- Tic-Störungen: Störungen mit unkontrollierten Bewegungen oder Lautäußerungen.
- Multiple Sklerose: Eine chronisch-entzündliche Entmarkungserkrankung.
- Pseudotumor cerebri: Erhöhter Hirndruck.
- Bewegungsstörungen: Verschiedene Störungen, die die Bewegungskoordination beeinträchtigen.
- Cerebral-Paresen: Folgen eines frühkindlichen Hirnschadens, wie z.B. spastische Lähmungen oder Intelligenzstörungen.
- Muskelkrankheiten: Verschiedene Erkrankungen, die die Muskelfunktion beeinträchtigen.
- Gefäßerkrankungen des Zentralnervensystems: Angeborene und erworbene Erkrankungen der Gehirngefäße, wie z.B. Gefäßmalformationen, Cavernome, Vaskulitis oder kindlicher Schlaganfall.
Diagnoseverfahren in der Neuropädiatrie
In der Neuropädiatrie werden vielfältige Untersuchungsmethoden zur Diagnosestellung und Verlaufskontrolle eingesetzt:
- Laboruntersuchungen: Blut, Liquor (Nervenwasser), Gewebeproben (z.B. Muskel).
- Ultraschall: Von Gehirn und Muskel.
- Klinische Neurophysiologie:
- Elektroenzephalogramm (EEG / Schlaf-EEG/Polygraphen): Aufzeichnung der Hirnstromkurve.
- Evozierte Potenziale (visuell, akustisch und somatosensibel).
- Neurographie (motorisch und sensibel).
- Polygraphie (Schlaflaboruntersuchung).
- Bildgebende Verfahren: Kernspintomografie (MRT) des Gehirns, Computertomografie (CT).
Spezielle Diagnose-Verfahren:
- Digitale videogestützte EEG-Ableitung
- Mobiles videogestütztes EEG
- 24 Stunden-EEG-Messung (ambulant und stationär)
- Wood-Licht-Untersuchung
- Doppler- und Duplex-Diagnostik der hirnversorgenden Gefäße
Die EMG-Diagnostik und Nervensonographie erfolgt oft in Zusammenarbeit mit der Erwachsenenneurologie. Zudem besteht eine enge Kooperation mit dem Institut für klinische Radiologie für alle Möglichkeiten bildgebender Verfahren (inkl. nuklearmedizinische bildgebende Verfahren).
Therapieansätze in der Neuropädiatrie
Oberstes Therapieziel ist die vollständige Heilung des Patienten. Wenn dies nicht zu erreichen ist, wird versucht, die Beeinträchtigungen soweit zu vermindern, dass eine aktive Teilhabe am öffentlichen Leben möglich wird. Dies erfordert oft ein umfangreiches Therapiekonzept in Zusammenarbeit mit dem Haus- oder Kinderarzt unter Verwendung von Medikamenten, Übungsbehandlungen (Physiotherapie) und weiteren Fördermaßnahmen (Frühförderung, Ergotherapie, Sehschule). Außerdem werden Eltern und Angehörige bei der Beschaffung von Hilfsmitteln (Rollstuhl) sowie möglicher finanzieller und personeller Unterstützung (Pflegedienst) beraten.
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Einige spezifische Therapieansätze umfassen:
- Medikamentöse Therapie: Zur Behandlung von Epilepsie, Kopfschmerzen, Multipler Sklerose und anderen neurologischen Erkrankungen.
- Physiotherapie: Zur Verbesserung der Beweglichkeit und Koordination bei Bewegungsstörungen und Cerebralparesen.
- Ergotherapie: Zur Förderung der Selbstständigkeit im Alltag und zur Verbesserung der Feinmotorik.
- Logopädie: Zur Behandlung von Sprach- und Sprechstörungen.
- Neurochirurgische Eingriffe: Bei bestimmten Formen von Epilepsie, Bewegungsstörungen oder Gefäßerkrankungen.
- Enzymersatztherapie: Bei angeborenen Stoffwechselerkrankungen.
- Immuntherapie: Bei Multipler Sklerose und anderenAutoimmunerkrankungen des Nervensystems.
- Interventionelle Therapien: Medikamentöse und interventionelle Therapien für Kinder mit Bewegungsstörungen. (u.a. Botulinumtoxin-Injektionen, intrathekale Baclofen-Therapie).
- Teilnahme an internationalen Behandlungsstudien: Moderne Therapien bei Erkrankungen wie der spinalen Muskelatrophie (Nusinersen°), kongenitalen Myastheniesyndromen und Muskeldystrophien.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit
Die Kinderneurologie arbeitet in einem großen interdisziplinären Team. Die enge Zusammenarbeit mit den betreuenden Kinder- und Jugendärzten steht an erster Stelle, um Erkrankungen möglichst früh diagnostizieren und optimal behandeln zu können. Die regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen bieten dafür die Basis. Die Neuropädiatrie hat besondere Gemeinsamkeiten und Schnittstellen mit der Sozialpädiatrie, insbesondere auf dem Gebiet der Entwicklungsneurologie und in der Versorgung chronisch kranker Patienten. Es ist die vordringliche Aufgabe, für jedes Kind ein Behandlungsteam zusammenzuführen, das sich um die verschiedenen Aspekte der oft komplexen neurologischen Krankheitsbilder kümmert.
Die betreuende kinder- und jugendärztliche Praxis wird bei Bedarf Spezialisten nennen können. Neuropädiater sind oft an Kliniken tätig, in Sozialpädiatrischen Zentren, in Reha-Einrichtungen oder Praxen mit neuropädiatrischem Schwerpunkt. Bei komplexen neurologischen Krankheitsbildern erfolgt die Diagnostik und Therapiebegleitung oft über ein Sozialpädiatrisches Zentrum.
Spezialisierte Zentren und Ambulanzen
Viele Kliniken bieten spezialisierte Zentren und Ambulanzen für bestimmte neurologische Erkrankungen an, wie z.B.:
- Epilepsiezentrum: Für Kinder und Jugendliche mit therapieschwierigen Epilepsien. Hier erfolgt die aufwändige prächirurgische Epilepsiediagnostik.
- Sozialpädiatrisches Zentrum (SPZ): Für Kinder mit Entwicklungsstörungen und komplexen neurologischen Erkrankungen.
- Neuropädiatrische Ambulanz: Für die ambulante Diagnostik und Behandlung neurologischer Erkrankungen.
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