Neurose vs. Psychose: Eine Abgrenzung ihrer Unterschiede

Jeder Mensch kennt Momente des Ungleichgewichts in seiner Psyche, die oft als Neurosen bezeichnet werden. Diese können sich in vielfältiger Weise äußern, wie beispielsweise in einer übertriebenen Pünktlichkeit, die auf Erfahrungen in der Kindheit oder traumatischen Erlebnissen beruhen kann. Neurosen manifestieren sich häufig in Form von Ängsten, Depressionen oder Zwängen, wobei jedoch der Bezug zur Realität und die Fähigkeit zur sinnvollen Kommunikation erhalten bleiben.

Im Gegensatz dazu scheint bei Psychosen die Realität außer Acht gelassen zu werden, was normale Gespräche erschwert. Psychotiker können auf den ersten Blick normal wirken, doch im Laufe der Unterhaltung offenbaren sich Auffälligkeiten wie Verfolgungsgefühle oder irritierende Antworten.

Realitätsverlust und Kommunikation

Ein wesentlicher Unterschied zwischen Neurose und Psychose liegt im Realitätsbezug. Während Menschen mit Neurosen sich ihrer Probleme bewusst sind und in der Lage sind, ihre Umgebung als real wahrzunehmen, verlieren Menschen mit Psychosen oft den Bezug zur Realität. Dies kann sich in Wahnvorstellungen, Halluzinationen oder einer verzerrten Wahrnehmung der Umwelt äußern.

Die Kommunikation mit Menschen mit Psychosen kann erschwert sein, da sie oft nicht in der Lage sind, die Sichtweisen anderer in Betracht zu ziehen und ihre eigene Interpretation der Realität als die einzig gültige ansehen. Wie Danielle Knafo und Michael Selzer in ihrem Buch „From Breakdown to Breakthrough“ (2024) schreiben, nehmen psychotische Patienten oft eine „entweder für oder gegen mich“-Haltung ein.

Neurotische und psychotische Anteile in jedem Menschen

Die Psychoanalytikerin Danielle Knafo und der Psychiater Michael Selzer vertreten die Auffassung, dass jeder Mensch sowohl neurotische als auch psychotische Anteile besitzt. Selbst ein Mensch in einer Psychose ist nie vollständig psychotisch, sondern trägt immer auch gesunde Anteile in sich. Diese Erkenntnis relativiert die starre Abgrenzung zwischen Neurose und Psychose und betont die Kontinuität psychischer Prozesse.

Lesen Sie auch: Inhaltsstoffe der Essenz Neurose Kapseln

Psychisches Strukturniveau und äußere Erscheinung

Das psychische Strukturniveau spielt bei Psychosen eine besondere Rolle. So äußert sich eine Psychose bei Drogenabhängigen am Bahnhof anders als bei Menschen mit höherer Bildung und einem relativ normalen Leben. Manche Menschen pendeln sogar zwischen diesen Welten, wie der Autor Thomas Melle in seinem autobiografischen Buch „Die Welt im Rücken“ (2018) beschreibt.

Oftmals ist bereits äußerlich erkennbar, wer zu Psychosen neigt oder sich in einer Psychose befindet. Das Verhältnis zum eigenen Körper ist oft gestört, was sich in unsicheren Bewegungen, mangelnder Selbstpflege oder merkwürdiger Kleidung äußern kann.

Die Angst vor Kontrollverlust

Die meisten Menschen haben Angst vor einer Psychose, da sie mit dem Verlust der Kontrolle einhergeht. Menschen in einer Psychose fühlen sich oft von allen anderen abgeschnitten. Während ein Mensch mit einer Neurose seine „Verrücktheit“ bemerkt, ist sich ein Mensch mit einer Psychose oft nicht bewusst, dass er gerade verrückt ist. Er hält sein Wahnsystem häufig für wahr und ist fest davon überzeugt, dass seine Wahrnehmungen und Gedanken richtig sind.

Behandlung von Psychosen

In Deutschland werden Menschen mit einer Psychose meistens mit Medikamenten (Neuroleptika) behandelt, die sie unter Umständen ein Leben lang einnehmen müssen. Dies hat dazu geführt, dass der Blick für die „natürliche Entwicklung“ von Psychosen verloren gegangen ist. Es gibt jedoch auch Psychiater, die Menschen mit Psychosen ohne Medikamente behandeln, wie beispielsweise der Psychoanalytiker Daniel Dorman.

Patienten wie die Buchautorin Hannah Green („Ich habe Dir nie einen Rosengarten versprochen“, echter Name: Joanne Greenberg) oder Catherine Penney berichten, wie sie mithilfe von Psychoanalyse den Weg aus ihrer Psychose gefunden haben. Auch der französische Maler Gerard Garouste fand aus seiner Psychose als junger Vater heraus, indem er malte und sich regelmäßig mit einem jüdischen Gelehrten zum Lesen der Tora traf.

Lesen Sie auch: Symptome und Ursachen von Neurose

Das Erleben der Psychose

Menschen mit einer Psychose erleben etwas, das Außenstehende nicht nachvollziehen können. Sie fühlen sich beispielsweise verfolgt und sehen „weiße Mäuse“ in einer Intensität, die das Erlebte real erscheinen lässt. Die Sprache ist oft schwer verständlich, und die Betroffenen verwenden möglicherweise selbst erdachte Worte.

Sigmund Freud erklärte, dass bei der Psychose das Ich vom Es überwältigt wird. Die Affekte, die die Betroffenen spüren, sind oft so stark, dass sie sie nicht aushalten können, was zu Reaktionen wie Flucht, Erbrechen, Schreien oder Erstarren führen kann.

Die Rolle früher Erfahrungen

Der Psychoanalytiker Robert D. Langs beschäftigte sich ebenfalls mit diesem „Zuviel“. Bereits als Säuglinge lernen wir, mit unseren Affekten umzugehen und sie zu regulieren, indem unsere Mütter uns dabei helfen. Die beruhigende Stimme, der Halt, die Wärme und die Nahrung der Eltern ermöglichen es uns, einen Umgang mit unseren Affekten zu finden. Fehlt diese frühe gute Kommunikation, sind die Kinder sichtlich überfordert von ihren inneren Regungen und von äußeren Eindrücken.

Viele gehen davon aus, dass Psychosen durch besonders schwere Traumata entstehen, insbesondere durch solche, bei denen der Körper des Kleinkinds angegriffen und verletzt wurde, noch bevor es sprechen konnte. Aber auch spätere, fast unvorstellbare Erfahrungen können möglicherweise zu Psychosen führen. Der Psychotherapeut Bertram Karon (1930-2019) sagte im Film „Take these broken wings“, dass er nie einen schizophrenen Patienten getroffen habe, der nicht Unglaubliches erlebt habe.

Transformatorische Psychoanalyse

Der Psychoanalytiker Christian Maier erwähnt in seinem Beitrag „Die Psychosentherapie als Lupe für die psychoanalytische Praxis“ (2023) die „transformatorische Psychoanalyse“ (Botella, Cesar 2015). Dabei geht es darum, das Seelische, das bisher nicht dargestellt werden konnte, „zur Darstellung gelangen zu lassen“.

Lesen Sie auch: Therapiemöglichkeiten bei Neurose

Formen der Psychose

Es gibt verschiedene Formen der Psychose, die sich in ihren Symptomen und Schwerpunkten unterscheiden:

  • Affektive Psychose: Hier stehen Gefühlsstörungen im Vordergrund, wie beispielsweise die bipolare Störung mit ihren Wechseln zwischen Depression und Manie.
  • Schizophrene Psychose: Das Denken ist gestört, und die Betroffenen können sich oft kaum mehr konzentrieren. Wahnvorstellungen treten auf.
  • Schizoaffektive Psychose: Diese Form ist eine Mischform aus beiden.

Oft lassen sich die Psychosen nicht so fein säuberlich abgrenzen, und die Trennung wird eher künstlich vorgenommen.

Metaphorische Bilder in der Psychose

Menschen mit Psychosen haben oft Angst vor „Strahlen“ und sprechen von „Sendern und Empfängern“, was auf Kommunikationsprobleme hindeuten kann. Sie können das Gefühl haben, dass ihnen Läuse über den Körper laufen, oder von einem bevorstehenden Weltuntergang und dem Untergang des eigenen Ichs sprechen. Manche haben das Gefühl, „flüssig“ zu sein oder sprechen von „Aliens“. Es ist wichtig, das für den Betroffenen passende Bild zu finden, um seine Erlebnisse besser zu verstehen.

Psychiatrie und Psychoanalyse im Vergleich

Aus psychiatrischer Sicht ist die Psychose die Folge eines gestörten Hirnstoffwechsels. Psychiater beobachten ihre Patienten von außen und beschreiben, was sie sehen. Die Psychose wird aus der Sicht einer dritten Person betrachtet. Sie geben meistens Medikamente und empfehlen Verhaltenstherapie.

Aus Sicht der Psychoanalyse geht es bei der Psychose besonders um die Fragen, wie sich die Psychose für den Betroffenen anfühlt (Sichtweise von der ersten Person aus) und was der Betroffene mit seinen engsten Bezugspersonen in der frühesten Kindheit erlebt hat (die zweite Person, das „Du“ spielt eine Rolle). Dabei achtet der Psychoanalytiker besonders auf seine eigene Innenwelt: „Was löst der Patient in mir an Gefühlen, Phantasien und Körperreaktionen aus?“ Die Gefühle und Phantasien des Analytikers können Hinweise auf die Innenwelt und auch auf die Vergangenheit des Betroffenen geben. Dabei spielt der Körper eine besondere Rolle. Betroffene, die ihre Medikamente absetzen, können oft wieder mehr fühlen und sich dann emotional weiterentwickeln.

Neurose als Ausdruck der Verdrängung (Freud)

Sigmund Freud fasste die Neurose als einen Konflikt zwischen einem erotischen Trieb und einer Auflehnung gegen ihn, einem Wunsch und einer widerstrebenden Befürchtung, einem peinlichen Affekt und einem Drang zu Abwehrhandlungen zusammen. Er betonte, dass Grundstrukturen, die symbolhaft in der Sprache in Erscheinung treten und den Niederschlag erster Körpererfahrungen enthalten, in der Psychose zerstört und in der Neurose verzerrt sind.

Psychose als Metapher für extremes Leiden

Die Performancekünstlerin und Malerin Bobby Baker drückte es so aus: „Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass Psychose eine Metapher für extremes Leiden ist.“

Neurose: Symptome, Ursachen und Behandlung

Eine Neurose ist eine psychische Störung, die oft mit Ängsten und Sorgen verbunden ist. Betroffene haben oft keine klare körperliche Ursache für ihre Beschwerden, sind sich aber ihrer Probleme bewusst. Der Begriff Neurose wurde erstmals 1776 von dem schottischen Arzt William Cullen eingeführt und später von Sigmund Freud weiterentwickelt.

In den modernen Diagnosemanualen wie dem DSM-5 und ICD-10 wird der Begriff Neurose nicht mehr verwendet. Stattdessen werden verschiedene Störungen unter den Kategorien „neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen“ zusammengefasst.

Neurosen können sich auf verschiedene Arten zeigen, darunter körperliche Symptome ohne organische Ursache, Realitätsverlust und Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur. Laut der Psychoanalyse entstehen Neurosen oft aus unbewussten Konflikten, die in der Kindheit verwurzelt sind.

Die Behandlung von Neurosen erfolgt häufig durch Psychotherapie, wobei verschiedene Methoden je nach Bedarf eingesetzt werden.

Neurose im Kontext verschiedener psychologischer Schulen

Die Begriffe Neurose und Psychose spielen eine wesentliche Rolle in der Psychologie, sowohl im erkenntnistheoretischen als auch im therapeutischen Kontext. Es ist jedoch Vorsicht geboten, da es sich um Pathologisierungen handelt, die immer mit dem Zeitgeist in Verbindung stehen und als politische oder gesellschaftliche Machtinstrumente missbraucht werden können.

Freud: Neurose als Ausdruck der Verdrängung

In der klassischen Psychoanalyse ist das neurotische Symptom Ausdruck der verdrängten Libido. Unbewusste Phantasien und Wünsche, die entweder nicht sozialverträglich sind oder aus anderen Gründen nicht ausgelebt werden können, werden vom Bewusstsein verdrängt. Psychoanalytisch gesehen ist die Neurose also eine Einschränkung des Bewusstseins. Ziel einer psychoanalytischen Behandlung ist es, den Ursprung der Neurose - den verdrängten Wunsch oder das Phantasma - ins Bewusstsein zu holen, um dem Symptom damit auf die Schliche zu kommen. Eine Psychose hingegen ist eine generelle Abkehr von der Außenwelt.

Adler: Neurose als Ausdruck eines dominierenden Minderwertigkeitsgefühls

In der Individualpsychologie nach Adler versucht man sich durch die Neurose seiner Eigenverantwortung zu entledigen, indem man Symptome erzeugt, die einem davon abhalten sollen, dieser nachzukommen. Das neurotische Ich ist hierbei also gekennzeichnet durch die Einschränkung der Verantwortung. Es ist ein Konflikt zwischen Wollen und Handeln, der sich durch das Symptom Ausdruck verleiht. Das Symptom verfolgt also einen gewissen Zweck, ist zielgerichtet: Ein Mensch in der Neurose fühlt sich den Aufgaben des Lebens nicht gewachsen und kreiert fortwährend eine Entschuldigung in Form einer Krankheit, die ihm die Verantwortung im Leben abnehmen soll. Die Psychose zeichnet sich auch bei Adler durch eine Realitätsflucht aus.

Frankl: Neurose als Ausdruck von Sinnsuche und Orientierungslosigkeit

Für Frankl liegt der Kern dessen, was gemeinhin als Neurose bezeichnet wird, in einer existenziellen Frustration. Neurotische Symptome resultieren seiner Erfahrung nach oft aus einem Mangel an Sinn und Bedeutung im Leben. In seiner Existenzanalyse versucht Frankl, die beiden zuvor genannten Theorien zu vereinen. Laut ihm verengen sowohl die psychoanalytische als auch die individualpsychologische Sicht mit ihrem Fokus auf einen Teilaspekt der Neurose den Blick aufs Ganze. Frankl betont, dass die Suche nach Halt in Sinn und Werten etwas existenzielles ist und somit alle Menschen betrifft - nicht nur solche mit neurotischen Symptomen.

tags: #Neurose #Psychose #Abgrenzung #Unterschiede