Pokémon und epileptische Anfälle: Ursachen und Hintergründe

Die Diskussion um mögliche gesundheitliche Auswirkungen von Medieninhalten ist nicht neu. Die Art und Weise, wie Beschwerden erklärt und welche Gründe als Krankheitsursachen angegeben werden, verrät etwas darüber, was die Menschen in ihrer Zeit beschäftigt, wovor sie Angst haben und wovon sie sich überfordert fühlen. Das Reden über Krankheit, das Ringen um die richtige Lebensführung und die beste Behandlung geben Auskunft über den Glauben an heilsame Wirkungen, schädliche Einflüsse, zeugen aber auch vom schlechten Gewissen bei "kleinen Sünden". Ein besonderes Augenmerk gilt hierbei der Frage, ob und wie bestimmte visuelle Reize, wie sie in Filmen und Videospielen vorkommen, epileptische Anfälle auslösen können. Ein prominentes Beispiel in diesem Zusammenhang ist die Pokémon-Episode "Dennō Senshi Porigon", die 1997 in Japan für Aufsehen sorgte.

Der Pokémon-Vorfall von 1997

Am 16. Dezember 1997 wurde im japanischen Fernsehen die 38. Episode der Pokémon-Serie mit dem Originaltitel "Dennō Senshi Porigon" ausgestrahlt. In dieser Folge, die sich um Ashs Abenteuer in einem digitalen Alternativ-Universum dreht, kommt es zu einer Szene, in der Pikachu mit seiner Attacke Donnerblitz zwei Raketen zerstört. Die darauffolgende Explosion wird durch ein etwa vier Sekunden langes, rasches Flackern zwischen isoliertem Rot und Blau dargestellt.

Diese Szene führte in der Folge zu einer Massenhysterie in Japan, bei der über 600 Kinder in Krankenhäuser eingeliefert werden mussten, nachdem sie Symptome wie Konvulsionen, Atemlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Sehstörungen und allgemeines Unwohlsein aufwiesen. Das Fernsehen berichtete daraufhin über die Krankheitssymptome und verschiedene Sender brachten noch einmal die Lichtblitzsequenz, woraufhin die Zahl der Kinder mit Symptomen auf über 12.000 anstieg.

Die Rolle von Lichtreizen bei Epilepsie

Dass schnelle Lichtreize bei entsprechender Veranlagung zu Anfällen führen können, ist Ärzten bekannt. Ungefähr vier Prozent aller Epilepsiepatienten reagieren zudem empfindlich auf bestimmte visuelle Reize wie etwa Lichtblitze in einem kritischen Frequenzbereich. Werden durch flackernde Lichtreize epileptische Anfälle ausgelöst, spricht man von fotogener Epilepsie. Sie gehört zu den Reflexepilepsien, bei denen spezifische anfallsauslösende Faktoren bei Menschen mit einer entsprechenden Veranlagung reflexartig zum Auftreten epileptischer Anfälle führen.

Schon im alten Rom war bekannt, dass epileptische Anfälle durch rasch wechselnde Hell-Dunkel-Kontraste, wie die einer Töpferscheibe, ausgelöst werden können. Heute ist Flackerlicht in Diskotheken ein typischer Auslöser. Fotogene Anfälle vor dem Fernsehapparat sind seltener geworden, seitdem die alten Röhrenbildschirme durch Flachbrettbildschirme abgelöst wurden. Wenn jedoch Videospiele oder Fernsehsendungen in ihren Bildfolgen flackernde Lichtreize mit Frequenzen zwischen fünf und 50 pro Sekunde enthalten, können empfindliche Kinder mit fotogenen Anfällen reagieren, was dann auch ein flimmerfreier Bildschirm nicht verhindern kann.

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Analyse des Vorfalls und seine Folgen

Die Ereignisse in Japan lösten eine breite Debatte über die potenziellen Gefahren von Fernsehsendungen und Videospielen aus. Spätere Auswertungen ergaben jedoch, dass bei Kindern, die von ihren Eltern nach Pokémon-Konsum zum Arzt gebracht wurden, weniger epileptische Neigungen auftraten als im Durchschnitt der Bevölkerung. Eine genaue Analyse schätzte die Zahl der fotokonvulsiven zerebralen Anfälle, die durch Pikachu getriggert worden waren, auf 1,5 pro 10.000 Kinder. Es wurde angenommen, dass der rasche Wechsel von Rot und Blau anfallsauslösend war.

Allerdings sorgten die Berichte von rund 12.000 betroffenen Kindern für Ratlosigkeit bei den Experten. Eigentlich haben nämlich nur rund ein Prozent der Menschen Epilepsie und nur drei Prozent der Betroffenen leiden unter photosensitiver Epilepsie. Grund genug, die Angelegenheit noch einmal genauer zu untersuchen.

Die Forscher kamen zu dem Schluss, dass höchstwahrscheinlich nicht die fragliche Szene selbst, sondern viel mehr das Wissen um die Möglichkeit eines derartigen Anfalls für die Symptome bei so vielen Kindern verantwortlich sein dürfte. Viele Kinder haben die Folge der Serie gar nicht live bei der Erstausstrahlung angesehen, sondern erst später, als sie bereits um die Möglichkeiten wussten. "Es ist nicht so, dass sie das vortäuschen. Es ist auch nicht so, dass sie sich das einbilden. Fast jeder kennt das Gefühl, wenn Sonnenstrahlen beim Rad- oder Autofahren entlang einer sonnenbeschienenen Baumreihe blitzen. Die meisten Menschen empfinden das als unangenehm. Bei etwa acht Prozent aller Kinder im Alter von fünf bis 15 Jahren findet man während einer Reizung mit flackerndem Licht in einer gleichzeitig abgeleiteten Hirnstromkurve (EEG) epilepsietypische Veränderungen. Nur sehr wenige, etwa 2,5 Prozent dieser Kinder entwickeln eine Epilepsie.

Als direkte Konsequenz wurde die Ausstrahlung der Pokémon-Serie für mehrere Monate unterbrochen und erst im April 1998 fortgesetzt. Die beanstandete Episode wurde seither nicht mehr offiziell gezeigt oder in andere Sprachen übersetzt. Auch in Deutschland ist die Episode nie ausgestrahlt worden.

Neue Richtlinien für Anime-Serien

Zudem hat der TV-Sender TV Tokyo als Reaktion auf die Vorkommnisse neue Richtlinien für Anime-Serien festgelegt. Dabei wird vor allem auf die Verwendung von isoliertem Rot, rascher Bildwechsel und systematischer Muster wie Spiralen und ähnlichem eingegangen.

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Reflexepilepsien und ihre Auslöser

Der Pokémon-Vorfall verdeutlicht die Bedeutung von Reflexepilepsien, bei denen spezifische Reize epileptische Anfälle auslösen können. Zu den häufigen Reflexepilepsien gehören außerdem die durch meist akustische Schreckreize ausgelöste Startle (Schreck)-Epilepsie und die audiogene Reflexepilepsie, bei der ganz bestimmte Töne oder Melodien epileptische Anfälle auslösen. Seltenere Reflexepilepsien können ausgelöst werden durch Essen, Lesen, Rechnen, Denken, das Lösen von Sudoku-Rätseln oder Zähneputzen.

Umgang mit fotogener Epilepsie

Die Therapie besteht zunächst in der Vermeidung der anfallsauslösenden Situation, also bei durch Sonnenlicht ausgelösten Epilepsien im häufigen Tragen einer, am besten grüngetönten polarisierten Sonnenbrille. Ein Zukneifen der Augen ohne Sonnenbrille verstärkt durch den Rot-Ton der Augenlider eher den anfallsauslösenden Effekt. Wenn möglich sollte ein Auge zugehalten werden. Besondere Vorsicht ist beim Baden geboten, besonders bei Sonnenschein.

Soziale Ansteckung und Massenhysterie

Der Pokémon-Vorfall ist auch ein Beispiel für soziale Ansteckung und Massenhysterie. Ähnliche Phänomene wurden in der Vergangenheit beobachtet, wie beispielsweise die "Eisenbahnkrankheiten" im 19. Jahrhundert oder der Cola-Skandal in Belgien 1999. In Tennessee trug sich 1998 ein erstaunlicher Fall sozialer Ansteckung zu: Eine Lehrerin hatte in ihrer Schule einen beißenden "benzinähnlichen" Gasgeruch wahrgenommen und daraufhin vor der Klasse über Kopfschmerz und Übelkeit geklagt. Mehr als hundert Schüler und Lehrer berichteten kurz darauf von denselben Symptomen, obwohl sich die Ursache des Geruchs in späteren Analysen als harmlos herausstellte und kein Gas ausgeströmt war. Alle anderen Opfer hatten sich offenbar an den negativen Gedanken angesteckt.

Die Schule wurde dennoch evakuiert, die Behörden wollten sich kein Versäumnis vorwerfen lassen. 38 Personen blieben wegen ihrer Beschwerden sogar über Nacht im Krankenhaus. Als die Schule fünf Tage später wieder geöffnet wurde, suchten weitere 71 Schüler und Lehrer die Notaufnahme auf. Doch auch nach intensiven Untersuchungen wurde kein Giftstoff oder eine andere Ursache für die Beschwerden gefunden.

Forscher, die den Fall später untersuchten, entdeckten, dass fast nur Mädchen und Frauen betroffen waren, und dass die Symptome besonders ausgeprägt waren, wenn die beste Freundin über Beschwerden geklagt hatte oder ins Krankenhaus gekommen war. Die Forscher konnten sich die Symptome nicht anders erklären und sprachen deshalb von einer Massenpsychose.

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Epilepsie: Eine neurologische Erkrankung

Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) leiden zirka 50 Millionen Menschen rund um den Globus an Epilepsie. Bei den Betroffenen führt die unkontrollierte Aktivierung größerer Gruppen von Nervenzellen in Gehirn zu den typischen Anfällen. Je nach dem Schweregrad der Übererregung und den betroffenen Hirnarealen reichen die Symptome von nur wenige Sekunden dauernden Bewusstseinsaussetzern (Absencen) bis hin zu ausgeprägten Krämpfen am ganzen Körper (Grand-Mal-Anfällen).

Epilepsie ist ein Anfallsleiden. "Messen" kann man eine Erkrankung mit einem sog. EEG, bei dem die Hirnströme aufgezeichnet werden. Anfälle selbst gibt es unterschiedliche. Vom kleinen und kurzen, von den Mitmenschen kaum oder gar nicht wahrgenommenen Anfällen.

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