Das zentrale Nervensystem (ZNS), bestehend aus Gehirn und Rückenmark, entwickelt sich während der Embryonalentwicklung. Störungen in dieser kritischen Phase können schwerwiegende Folgen für das Kind haben. Dieser Artikel beleuchtet die Ursachen, Diagnose und Behandlung von ZNS-Störungen bei Babys.
Entwicklung des fetalen Gehirns
Die Entwicklung des Gehirns beginnt bereits in einem frühen Stadium der Schwangerschaft.
- 5. Schwangerschaftswoche: Die ersten Nervenzellen beginnen sich zu teilen und differenzieren sich in Neuronen und Gliazellen. Die Neuralplatte faltet sich und bildet das Neuralrohr.
- 6. Schwangerschaftswoche: Das Neuralrohr schließt sich und entwickelt sich zu Gehirn und Rückenmark.
- 10. Schwangerschaftswoche: Das Gehirn hat eine kleine, glatte Struktur. Die Falten, die die verschiedenen Hirnregionen bilden, entwickeln sich erst später.
- 7. Schwangerschaftswoche: Die ersten Synapsen bilden sich im Rückenmark.
- 8. Schwangerschaftswoche: Elektrische Aktivität im Gehirn beginnt, was erste spontane Bewegungen ermöglicht.
- Ende des zweiten Trimesters: Das Gehirn, das lebenswichtige Funktionen wie Herzfrequenz und Atmung steuert, ist in der Regel vollständig entwickelt.
- Drittes Trimester: Der zerebrale Kortex, der willkürliche Handlungen sowie das Denken und Fühlen steuert, übernimmt seine Aufgaben.
Ursachen von ZNS-Störungen
Entwicklungsstörungen des ZNS sind mit einer Häufigkeit von 1 pro 100 Lebendgeborene die häufigsten Entwicklungsstörungen und werden meist im Rahmen der Feindiagnostik im Verlauf einer Schwangerschaft diagnostiziert. Sie können isoliert oder im Rahmen von Syndromen auftreten. Sowohl genetische Veränderungen als auch umweltbedingte Faktoren können ursächlich sein. Zu Letzteren zählen:
- Teratogene Substanzen: Alkohol, bestimmte Antiepileptika und Antibiotika, Retinoide.
- Virusinfektionen: Zytomegalie, Röteln, Varizellen, Herpes simplex, Zika.
- Toxoplasmose-Infektion
- Strahlenexposition
- Stoffwechselkrankheiten
- Schwere Mangel- und Fehlernährung
- Hyperthermie
- Adipositas und Diabetes mellitus der Schwangeren
Neuralrohrdefekte (Dysraphien)
Dysraphien, oder Verschlussstörungen des Neuralrohrs, entstehen um die 3. und 4. Schwangerschaftswoche. Zu den Ursachen zählen neben Umweltfaktoren (Medikamente, Infektionen, Diabetes der Mutter, Folsäuremangel) auch genetische Faktoren. Beispiele für Dysraphien sind:
- Kraniorachischisis: Komplette Verschlussstörung des Neuralrohrs mit Anenzephalie und Spina bifida.
- Anenzephalie: Fehlende Entwicklung wesentlicher Teile des Gehirns.
- Meningozele/Enzephalozele: Vorwölbung von Meningen und Liquor oder Hirngewebe durch einen Defekt im Schädelknochen.
- Spina bifida: Partielle Verschlussstörung des Neuralrohrs mit defekter Fusion posteriorer spinaler knöcherner Elemente. Man unterscheidet offene (Spina bifida aperta) und geschlossene (Spina bifida occulta) Defekte.
- Diastematomyelie: Aufgespaltenes Rückenmark.
Holoprosenzephalie
Die Holoprosenzephalie bezeichnet eine inkomplette oder fehlende Trennung der Großhirnhemisphären und tritt mit einer Prävalenz von ca. 0,5-1:10.000 Lebendgeburten auf. Betroffen sind oft auch Mittelhirnstrukturen, und es treten Gesichtsfehlbildungen auf. Zu den Risikofaktoren zählen maternaler Diabetes mellitus, teratogene Substanzen (Alkohol, Retinsäure) und Hypocholesterinämie.
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Frühkindliche Hirnschädigung und Zerebralparese (ICP)
Unter einer infantilen Zerebralparese (ICP) versteht man eine nicht progrediente Bewegungsstörung, häufig in Form einer Spastik, die entweder intrauterin oder kurz nach Geburt eingetreten ist und häufig mit anderen Komorbiditäten, z. B. Intelligenzminderung oder Epilepsie, assoziiert ist. Während die ICP früher meist auf einen Sauerstoffmangel bei Geburt zurückzuführen war, dominieren heutzutage Komplikationen bei Frühgeburtlichkeit wie Hirnblutung oder periventrikuläre Leukomalazie.
Symptome von ZNS-Störungen
Die Symptome von ZNS-Störungen können vielfältig sein und hängen von der Art und dem Schweregrad der Störung ab.
Bewegungsstörungen
Bewegungsstörungen sind ein häufiger Vorstellungsgrund bei Kinderärzten. Sie können sich in verschiedenen Formen äußern:
- Spastik: Erhöhter Muskeltonus, gesteigerte Muskeleigenreflexe, Kloni und positives Babinski-Zeichen. Ursache ist eine Läsion der Pyramidenbahn.
- Ataxie: Dysmetrie, Intentionstremor, skandierende Sprache und breitbasiger unsicherer Gang. Ursache sind Schädigungen des Kleinhirns oder sensibler Bahnen im Rückenmark.
- Dystonie: Unwillkürliche, oft schmerzhafte Verkrampfungen von Muskelgruppen, die zu ungewöhnlichen Körperhaltungen und unkontrollierbaren Bewegungen führen. Ursache sind Schädigungen der Basalganglien.
Weitere Bewegungsstörungen sind:
- Athetose, Tremor, Ballismus und Chorea: Unterformen der Dystonie.
- Opsoklonus-Myoklonus-Syndrom: Irreguläre Augenbewegungen und ausgeprägte Ataxie.
- Benigne Schlafmyoklonien des Neugeborenen: Irreguläre oder rhythmische Myoklonien und Kloni der Extremitäten im Schlaf.
- Schauerattacken (Shuddering Attacks): Kurze tremorartige Zuckungen mit einer Frequenz von circa 10 Hz.
- Startle-Reaktionen: Heftige, unwillkürliche Reaktionen auf einen plötzlich auftretenden Reiz.
- Benigner paroxysmaler Torticollis: Kopf bleibt dauerhaft gewendet, oft begleitet von Übelkeit und Erbrechen.
- Sandifer-Syndrom: Tonische Kopfwendungen, die auch Extremitäten und Körper einbeziehen können.
- Choreoathetosen: Wilde Bewegungsstürme, ausgelöst durch schnelle oder wiederholte Bewegungen (kinesiogene Choreoathetose), Stress, Tee, Koffein (paroxysmale dystone Choreoathetose) oder Belastung (belastungsinduzierte Choreoathetose).
- Episodische Ataxie: Episoden mit zerebellärer Ataxie, oft begleitet von Myokymien (episodische Ataxie Typ 1) oder Nystagmus (episodische Ataxie Typ 2).
- Alternierende Hemiplegie des Kindesalters: Schlaffe, wechselnd lateralisierte Hemiparesen, tonische Versteifungen, Nystagmus und autonome Phänomene.
- Spasmus nutans: Asymmetrischer Nystagmus, Kopfschiefhaltung und Kopfnicken.
- Paroxysmaler tonischer Aufwärtsblick: Tonische Augenbewegungen nach oben.
- Okulomotorische Apraxie: Unfähigkeit, die Bulbi zielgerichtet zu bewegen.
- Okulogyre Krisen: Unwillkürliche symmetrische dystone Bulbusbewegungen in eine Richtung.
- Chorea minor: Unkontrollierbare blitzartig ausfahrende Bewegungen, insbesondere der Hände und/oder der Gesichts- und Schlundmuskulatur.
- Gratifikationsphänomene: Rhythmische Beckenbewegungen, oft begleitet von Abwesenheit und Gesichtsrötung.
- Angeborene Gelenksteife (Arthrogryposis multiplex congenita, AMC): Versteifung der oberen oder unteren Gliedmaßen.
Apathie
Apathie bedeutet Teilnahmslosigkeit, Nicht-Ansprechbarkeit und fehlende Reaktion auf äußere Reize. Es ist eine Störung des Wachheitszustandes und ein sehr ernst zu nehmendes, gefährliches Symptom beim Baby.
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Weitere Symptome
- Mikrozephalie: Kopfumfang unterhalb der 3. Perzentile.
- Makrozephalie: Kopfumfang oberhalb der 97. Perzentile.
- Entwicklungsverzögerung
- Sprachstörungen
- Sensorische Störungen
- Epilepsie
- Kontrakturen: Verkürzungen des Gewebes um ein Gelenk.
- Skoliosen
- Hüftluxationen
- Fußdeformitäten
- Blasenfunktionsstörungen
- Mastdarmentleerungsstörungen
- Intelligenzminderung
- Dysautonomien
- Schluckstörungen
- Endokrine Störungen
- Kraniofaziale Anomalien
Diagnose von ZNS-Störungen
Für eine ätiologische und prognostische Einordnung einer Malformation des ZNS ist neben einer detaillierten Anamnese und klinischen Untersuchung die prä- und postnatale Bildgebung entscheidend.
- Pränatal: Ultraschalldiagnostik, oft ergänzt durch fetale Magnetresonanztomografie (MRT).
- Postnatal: MRT ist die Methode der Wahl.
- Entwicklungsneurologische und neuroorthopädische klinische Untersuchung
- Elektroenzephalogramm (EEG): Zur Unterscheidung zwischen epileptischen Anfällen und nichtepileptischen Phänomenen.
- Chromosomenanalyse, Array-CGH oder Kandidatengen-Sequenzierung: Anhand fetalen Gewebes, welches durch Chorionzottenbiopsie oder Amniozentese gewonnen werden kann, zur Identifizierung der zugrunde liegenden genetischen Ursache.
- Next-Generation-Sequenzierung: Postnatal zur Identifizierung genetischer Ursachen.
Behandlung von ZNS-Störungen
Die Therapie von ZNS-Störungen ist abhängig von der genauen Diagnose und der Ausprägung der Schädigungen. Sie sollte von Anfang an und lebenslang in einem interdisziplinären und multiprofessionellen Team erfolgen.
- Operativer Verschluss der Spina bifida aperta: Innerhalb der ersten 2 Lebenstage.
- Shuntimplantation: Bei Hydrozephalus.
- Dekompression des kraniozervikalen Übergangs: Bei symptomatischer Chiari-II-Malformation.
- Untethering: Bei progredientem neurologischen Defizit durch Tethered Cord.
- Ableitung: Bei symptomatischer Hydromyelie oder Syringomelie.
- Physiotherapie und Ergotherapie: Zur Verbesserung der Motorik und der Alltagsfähigkeiten.
- Logopädie: Bei Sprach- und Schluckstörungen.
- Orthesen: Zur dynamischen Redression bei Kontrakturen.
- Medikamentöse Therapie: Z. B. Benzodiazepine bei Hyperekplexie, Carbamazepin und Benzodiazepine bei kinesiogener Choreoathetose, Antiepileptika bei paroxysmaler dystoner Choreoathetose, ketogene Diät bei belastungsinduzierter Choreoathetose, Flunarizin bei alternierender Hemiplegie des Kindesalters, L-Dopa bei Segawa-Dystonie.
- Botulinumtoxin: Bei Spastik.
- Einmalkatheterisierung: Bei Blasenentleerungsstörung.
- Antibiotische Prophylaxe: Bei Blasenentleerungsstörung.
- Medikamentöse Therapie einer Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie: In Absprache mit den Urologen.
- Konservative Therapie der Mastdarmentleerungsstörung: Ballaststoffreiche Ernährung, manuelle Enddarmreinigung, medikamentöse Therapie.
- Operative Verfahren: Bei Mastdarmentleerungsstörung zur Erreichung sozialer Kontinenz.
- Hilfsmittelversorgung: Zur Ermöglichung des höchsten Grades an Mobilität.
- Gentherapie: Bei Aromatischen Aminosäure-Decarboxylase- (AADC)-Mangel.
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