Herausforderndes Verhalten bei Demenz, wie Schreien, Aggressivität oder Rückzug, stellt eine große Belastung für Betroffene, Angehörige und Pflegekräfte dar. Oftmals sind diese Verhaltensweisen jedoch kein Ausdruck von Böswilligkeit, sondern Reaktionen auf Schmerzen, Ängste, Überforderung oder unerfüllte Bedürfnisse. Dieser Artikel beleuchtet die Ursachen für herausforderndes Verhalten bei Demenz und bietet Lösungsansätze für den Umgang damit.
Was ist herausforderndes Verhalten?
Der Begriff "herausforderndes Verhalten" wird verwendet, um Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz zu beschreiben, die von der Umgebung als unangemessen, störend oder belastend wahrgenommen werden. Dazu gehören:
- Verbale Äußerungen: Schreien, Rufen, ständiges Wiederholen von Fragen oder Sätzen. Beispiele hierfür sind das wiederholte Rufen von "Hiiiilfeeeee!!!!" oder das andauernde "Hallo"-Rufen, selbst kurz nachdem man das Zimmer verlassen hat.
- Aggressives Verhalten: Schlagen, Treten, Kneifen, Beißen, Werfen von Gegenständen. Ein Beispiel hierfür ist das Schlagen mit der Faust auf den Tisch.
- Verweigerung: Ablehnung von Essen, Medikamenten oder Pflege.
- Motorische Unruhe: Umherlaufen, Nesteln, Agitiertheit.
- Enthemmtes Verhalten: Entkleiden, unsittliches Betasten, Schmieren mit Stuhl.
- Apathie und Teilnahmslosigkeit: Rückzug, Desinteresse, mangelnde Initiative.
Es ist wichtig zu betonen, dass diese Verhaltensweisen in den meisten Fällen nicht absichtlich erfolgen. Menschen mit Demenz sind oft nicht in der Lage, ihre Bedürfnisse oder Gefühle auf angemessene Weise auszudrücken.
Ursachen für herausforderndes Verhalten
Die Ursachen für herausforderndes Verhalten bei Demenz sind vielfältig und komplex. Sie lassen sich in verschiedene Kategorien einteilen:
1. Körperliche Ursachen (Intrinsische Faktoren)
- Schmerzen: Menschen mit Demenz haben oft Schwierigkeiten, Schmerzen zu erkennen und zu äußern. Unerkannte Schmerzen, beispielsweise aufgrund von Stürzen, Frakturen oder Zahnproblemen, können zu Unruhe, Aggressivität und Verweigerung führen.
- Unwohlsein: Hunger, Durst, Verstopfung, Harndrang oder das Gefühl, zu warm oder zu kalt zu sein, können ebenfalls herausforderndes Verhalten auslösen.
- Krankheiten: Infektionen, Stoffwechselstörungen oder andere körperliche Erkrankungen können das Verhalten von Menschen mit Demenz verändern.
- Medikamente: Nebenwirkungen von Medikamenten oder eine falsche Dosierung können zu Verwirrtheit, Unruhe oder Apathie führen.
- Schlafstörungen: Ein gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus kann zu Tagesmüdigkeit, Reizbarkeit und Agitiertheit führen.
2. Psychosoziale Ursachen (Extrinsische Faktoren)
- Überforderung: Eine reizüberflutete Umgebung, zu viele Aufgaben oder zu komplexe Anweisungen können Menschen mit Demenz überfordern und zu Frustration, Angst und Aggressivität führen.
- Angst und Unsicherheit: Veränderungen in der Umgebung, unbekannte Personen oder Situationen, oder der Verlust von Kontrolle können Angst und Unsicherheit auslösen.
- Einsamkeit und Isolation: Mangelnde soziale Kontakte und fehlende Zuwendung können zu Traurigkeit, Apathie und dem Gefühl, verlassen zu sein, führen.
- Langeweile und Unterforderung: Fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten und mangelnde Stimulation können zu Unruhe und Agitiertheit führen.
- Kommunikationsprobleme: Schwierigkeiten, sich auszudrücken oder andere zu verstehen, können zu Frustration und aggressivem Verhalten führen. Menschen mit Demenz können Worte nicht mehr verstehen oder sich selbst nicht mehr verständlich ausdrücken.
- Defizitorientierter Umgang: Eine ständige Konfrontation mit den eigenen Defiziten und Einschränkungen kann das Selbstwertgefühl mindern und zu Aggressivität oder Depression führen.
- Belastende Erinnerungen: Traumatisierende Erlebnisse in der Vergangenheit können im Rahmen der Demenz wieder hochkommen und zu Angstzuständen, Schlafstörungen und aggressivem Verhalten führen.
3. Neurologische Ursachen
- Hirnschädigung: Die Demenzerkrankung selbst führt zu Veränderungen im Gehirn, die das Verhalten beeinflussen können. Je nach betroffenem Hirnbereich können unterschiedliche Symptome auftreten. Beispielsweise können Wahnsymptome oder Halluzinationen auftreten, während eine frontotemporale Demenz zu Enthemmungsphänomenen führen kann.
- Neurotransmitter-Ungleichgewicht: Eine Störung des Gleichgewichts von Neurotransmittern im Gehirn kann ebenfalls zu Verhaltensänderungen beitragen.
Umgang mit herausforderndem Verhalten
Der Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Demenz erfordert Geduld, Einfühlungsvermögen und ein gutes Verständnis für die Ursachen. Es gibt verschiedene Strategien, die helfen können, das Verhalten zu reduzieren und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern:
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1. Ursachenforschung
Der erste Schritt ist, die Ursache für das herausfordernde Verhalten zu identifizieren. Dies kann durch Beobachtung, Gespräche mit Angehörigen und Pflegekräften sowie durch eine sorgfältige körperliche Untersuchung erfolgen. Eine bewährte Methode zur systematischen Ursachenklärung ist die Serial Trial Intervention (STI):
- Körperliche Ursachen prüfen: Schmerzen, Hunger, Durst, Krankheit?
- Emotionale Ursachen betrachten: Fehlt Nähe, ist die Umgebung stressig?
- Berührung & Entspannung anbieten: Massagen, ruhige Klänge, Snoezelen (Kombination aus Kuscheln und Dösen)
- Medikamentöse Hilfe prüfen: Erst wenn alle anderen Maßnahmen nicht helfen, kann die Gabe eines Schmerz- oder Beruhigungsmittels in Betracht gezogen werden.
2. Anpassung der Umgebung
Eine reizarme, ruhige und vertraute Umgebung kann helfen, Überforderung und Angst zu reduzieren. Folgende Maßnahmen können hilfreich sein:
- Reduzierung von Lärm und Ablenkungen: Fernseher, Radio oder laute Gespräche sollten vermieden werden.
- Gute Beleuchtung: Helle, blendfreie Beleuchtung kann helfen, die Orientierung zu verbessern.
- Vertraute Gegenstände: Persönliche Gegenstände wie Fotos, Möbel oder Erinnerungsstücke können ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit vermitteln.
- Klare Struktur: Feste Tagesabläufe und Rituale können Orientierung und Sicherheit geben.
- Sichere Umgebung: Gefahrenquellen wie scharfe Gegenstände oder rutschige Böden sollten entfernt werden.
3. Kommunikation
Eine klare, einfache und respektvolle Kommunikation ist entscheidend. Folgende Tipps können helfen:
- Langsam und deutlich sprechen: Kurze Sätze und einfache Worte verwenden.
- Blickkontakt herstellen: Dem Betroffenen zeigen, dass man ihm zuhört.
- Den Namen des Betroffenen verwenden: Eine persönliche Verbindung herstellen.
- Geduldig sein: Wiederholungen und Missverständnisse akzeptieren.
- Auf nonverbale Signale achten: Körpersprache, Mimik und Tonfall können wichtige Informationen liefern.
- Vorwürfe vermeiden: Dem Betroffenen nicht das Gefühl geben, etwas falsch gemacht zu haben.
- Gefühle respektieren: Die Gefühle des Betroffenen ernst nehmen und ihn nicht auslachen oder abwerten.
- Validierung: Die Gefühle und Bedürfnisse des Betroffenen anerkennen und bestätigen. Zum Beispiel: "Ich sehe, du bist traurig."
- Ablenkung: Wenn eine Situation eskaliert, kann Ablenkung helfen, die Spannung zu reduzieren.
4. Beschäftigung und Aktivierung
Sinnvolle Beschäftigungen und Aktivitäten können helfen, Langeweile, Unterforderung und Einsamkeit zu reduzieren. Folgende Möglichkeiten können in Betracht gezogen werden:
- Alltagsaktivitäten: Dem Betroffenen Aufgaben geben, die er noch selbstständig ausführen kann, wie z.B. Servietten falten, Gemüse putzen oder beim Tischdecken helfen.
- Kreative Aktivitäten: Malen, Basteln, Musizieren oder Singen können die kognitiven Funktionen anregen und das Wohlbefinden steigern.
- Bewegung: Spaziergänge, Tanzen oder leichte Gymnastik können die körperliche Aktivität fördern und die Stimmung verbessern.
- Erinnerungsarbeit: Gespräche über die Vergangenheit, das Betrachten von Fotos oder das Hören von Musik aus der Jugendzeit können Erinnerungen wecken und ein Gefühl von Vertrautheit vermitteln.
- Sinnesaktivierung: Die Verwendung von Düften, Stoffen oder Materialien mit unterschiedlichen Texturen kann die Sinne anregen und positive Reaktionen hervorrufen.
5. Medikamentöse Behandlung
Medikamente sollten nur in Ausnahmefällen und nach sorgfältiger Abwägung der Risiken und Nutzen eingesetzt werden. Sie können helfen, akute Symptome wie Aggressivität, Unruhe oder Angstzustände zu lindern. Es ist wichtig, die Medikamente niedrig dosiert und nur für kurze Zeit einzusetzen. Folgende Medikamente können in Betracht gezogen werden:
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- Antidementiva: Können in einigen Fällen auch Verhaltenssymptome verbessern.
- Neuroleptika: Können bei Aggressivität, Wahnvorstellungen oder Halluzinationen eingesetzt werden.
- Antidepressiva: Können bei Depressionen, Angstzuständen oder Schlafstörungen helfen.
- Beruhigungsmittel: Sollten nur in Notfällen und für kurze Zeit eingesetzt werden, da sie das Risiko von Stürzen und Verwirrtheit erhöhen können.
6. Entlastung für Angehörige und Pflegekräfte
Die Betreuung von Menschen mit Demenz kann sehr belastend sein. Es ist wichtig, dass Angehörige und Pflegekräfte sich rechtzeitig Unterstützung suchen, um ihre eigene Gesundheit und ihr Wohlbefinden zu erhalten. Folgende Möglichkeiten der Entlastung gibt es:
- Gesprächsgruppen: Der Austausch mit anderen Betroffenen kann helfen, sich verstanden und unterstützt zu fühlen.
- Beratungsstellen: Bieten Informationen, Beratung und Unterstützung für Angehörige und Pflegekräfte.
- Pflegekurse: Vermitteln Wissen und praktische Fähigkeiten für die Pflege von Menschen mit Demenz.
- Tagespflege: Bietet eine stundenweise Betreuung in einer Einrichtung.
- Kurzzeitpflege: Ermöglicht eine vorübergehende Unterbringung in einer Pflegeeinrichtung.
- Ambulante Pflegedienste: Bieten Unterstützung bei der Pflege zu Hause.
- Selbsthilfegruppen: Bieten die Möglichkeit, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen und gegenseitig zu unterstützen.
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