Was passiert im Gehirn beim Lesen? Eine umfassende Analyse

Lesen ist eine der wichtigsten und komplexesten Fähigkeiten des Menschen. Es ist eine Kulturtechnik, die unser Gehirn in vielerlei Hinsicht beeinflusst. In diesem Artikel werden wir untersuchen, was im Gehirn beim Lesen passiert, welche Vorteile das Lesen für das Gehirn hat und wie wir uns selbst und andere zum Lesen motivieren können.

Einleitung

Lesen ist mehr als nur das Entziffern von Buchstaben. Es ist ein komplexer Prozess, der verschiedene Bereiche des Gehirns beansprucht und unsere kognitiven Fähigkeiten fördert. Bücherwürmer leben länger und das Lesen steigert die Lebensqualität sowie die Lebenserwartung. Es verbessert den Wortschatz, die Rechtschreibung, die Ausdrucksfähigkeit und das Allgemeinwissen. Lesen sorgt also tatsächlich dafür, dass das Gehirn besser arbeitet.

Die neuronalen Grundlagen des Lesens

Umfunktionierung von Hirnregionen

Lesen ist evolutionär betrachtet eine junge kulturelle Errungenschaft. Aus diesem Grund hat unser Gehirn noch keinen eigenen Platz für das Lesen entwickelt. Stattdessen werden Hirnregionen umfunktioniert, die ursprünglich für andere Fähigkeiten genutzt wurden. Im Zuge des Lesernlernens muss es daher zu funktionellen Umstrukturierungen im Gehirn kommen. Forscher gehen unter anderem davon aus, dass dabei Hirnareale, die eigentlich für die Erkennung komplexer Objekte wie Gesichtern konzipiert waren, nun dafür genutzt werden, Buchstaben zu erkennen und in Sprache zu übertragen. Dadurch entwickeln sich einige Regionen unseres visuellen Systems zu Schnittstellen zwischen unserem Seh- und Sprachsystem.

Veränderungen im Gehirn durch Lesen lernen

Eine Studie mit indischen Analphabetinnen hat gezeigt, dass das Lesenlernen keineswegs nur Areale und Funktion der Großhirnrinde verändert, wie bisher angenommen. Stattdessen werden durch diesen Lernprozess Umstrukturierungen in Gang gesetzt, die bis in den Thalamus und den Hirnstamm hineinreichen - und damit in evolutionär sehr alte Hirnteile. Bestimmte Areale im Hirnstamm und im Thalamus passen ihre Aktivitätsmuster im Laufe der Zeit enger an die Feuerrate der Sehzentren in der Großhirnrinde an. Sie übernehmen damit offenbar Assistenzaufgaben beim Entziffern der Schrift. Die Thalamus- und Hirnstammkerne helfen unserer Sehrinde dabei, wichtige Informationen aus der Flut von visuellen Reizen herauszufiltern, noch bevor wir überhaupt bewusst etwas wahrnehmen. Es wird vermutet, dass die Areale am Hirnstamm zudem die Augenbewegungen koordinieren helfen, mit denen wir die Buchstaben fixieren.

Beteiligung verschiedener Hirnregionen

Beim Lesen werden verschiedene Bereiche des Gehirns aktiviert, darunter:

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  • Visueller Kortex: Verarbeitung visueller Informationen, Erkennung von Buchstaben und Wörtern
  • Sprachzentrum (Broca- und Wernicke-Areal): Sprachverständnis, Zuordnung von Lauten zu Buchstaben
  • Gedächtnis: Abruf von Wortbedeutungen, Kontextverständnis
  • Frontallappen: Aufmerksamkeit, Konzentration, Entscheidungsfindung

Zwei Formen des Lesens

Es gibt zwei prinzipiell verschiedene Formen des Lesens:

  1. Lesen im Hinblick auf Sinnentnahme: Hierbei geht es darum, Informationen aus dem Text zu extrahieren und Wissen zu erzeugen.
  2. Bildgenerierendes oder geschichtengenerierendes Lesen: Hierbei wird eine innere Stimme genutzt, um ein bildliches Drama auf der Bühne des inneren Erlebens zu entwerfen. Jeder Leser entfaltet eine eigene Bildgeschichte, die mit ihm selber abgestimmt ist.

Vorteile des Lesens für das Gehirn

Steigerung der Konnektivität im Gehirn

An der Emory University in Atlanta haben Forschende zeigen können, dass das Lesen im Gehirn sogar auf biologischer Ebene Spuren hinterlässt. Sie machten Gehirnscans der Probanden und baten sie, jeden Abend in einem ausgewählten Buch zu lesen. Am nächsten Morgen wiederholten sie die Scans - und fanden Veränderungen: In einem Gehirnbereich, der für die Aufnahme von Sprache zuständig ist, war die sogenannte Konnektivität erhöht. Das heißt, der Informationsfluss der Neuronen funktionierte besser. Das Gleiche galt für die Zentralfurche des Gehirns (Sulcus centralis). Diese Struktur wird mit Körperempfindungen in Verbindung gebracht.

Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten

Regelmäßiges Lesen trainiert das Gehirn effektiv, was die Merkfähigkeit und Abrufgeschwindigkeit von Informationen steigert. Studien zeigen, dass Lesen spezifische Gehirnbereiche aktiviert, die unsere Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeitsspanne beeinflussen. Wer viel liest, ist schlau - oder? Wer liest, erweitert automatisch sein Wissen. Dabei muss es sich nicht unbedingt um trockene Sachbücher handeln, auch Romane vermitteln neues Wissen und Ideen. Beim Lesen lernt man dabei nicht nur neue Wörter, sondern auch Redewendungen, Sprichwörter oder Metaphern. Durch das Lesen verschiedener Texte und Genres entwickelst du ein intuitives Verständnis für korrekte grammatikalische Strukturen und den Aufbau von Sätzen.

Förderung der emotionalen Intelligenz

Lesen fördert unter anderem die so genannte emotionale Intelligenz, also die Fähigkeit, die Gefühle anderer wahrzunehmen und zu verstehen. Denn beim Lesen versetzen wir uns automatisch in die Personen der Geschichte hinein und erleben hautnah, mit welchen Gefühlen und Gedanken sie reagieren. So erweiterst du deine emotionalen und sozialen Fähigkeiten. Aber Lesen kann noch mehr für deine Karriere tun: Bücher, insbesondere solche mit Fachinhalten oder Fallstudien, können verschiedene Perspektiven und Lösungsansätze für komplexe Probleme vermitteln.

Stressabbau und Entspannung

Einer Studie an der University of Sussex zufolge kann das Lesen von Büchern den aktuellen Stresspegel um bis zu 68 Prozent senken. Um das zu überprüfen, führten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit den Teilnehmenden Tests durch, die sie unter Stress setzten und ihre Herzfrequenz messbar nach oben trieben. Anschließend sollten sie sechs Minuten lang still sitzen und eine Zeitschrift oder ein Buch lesen. Dabei stellte sich heraus: Das Herz beruhigte sich, offensichtlich nahm die Anspannung ab. Zwar ist ein großer Teil dieser Entspannung wohl dem Stillsitzen zuzuschreiben - doch genau dazu werden wir beim Lesen meist „gezwungen“.

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Demenz-Prävention

Untersuchungen haben gezeigt, dass regelmäßiges Bücherlesen wahrscheinlich dazu beitragen kann, das Risiko für eine Demenz zu senken. Forschende stellten fest, dass die Erkrankungsrate bei intellektuell aktiven Menschen geringer war. Und nicht nur das. Normalerweise nimmt die Leistung des Gehirns im Alter ab. Es kann Informationen schlechter aufnehmen, der aktive Wortschatz sinkt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben jedoch nachgewiesen, dass es möglich ist, durch häufiges Lesen von Zeitschriften und Büchern zumindest einen Teil dieser Alterserscheinungen bei den verbalen Fähigkeiten zu kompensieren.

Lesen vs. Fernsehen und soziale Medien

Informationen und spannende Geschichten kann auch das Fernsehen vermitteln. Warum ist es trotzdem besser, mehr zu lesen? Während regelmäßiges Lesen Demenz womöglich vorbeugen kann, fördert Fernsehen die Gehirntätigkeit anscheinend nicht im positiven Sinne - im Gegenteil. Bei einer Langzeitstudie haben Forschende Hinweise darauf gefunden, dass intensiver Fernsehkonsum von mehr als vier Stunden täglich das Risiko für eine Demenz erhöhen könnte, weil es vermutlich dazu beiträgt, dass Gehirnzellen früher absterben. Insbesondere soziale Medien können da an positiven Effekten nicht mithalten.

Motivation zum Lesen

Motivationstipps für Erwachsene

  • Finden Sie Bücher zu Themen, die Sie wirklich interessieren.
  • Wenn Sie merken, dass ein Buch Sie gar nicht fesselt oder das Lesen sehr schwerfällt, legen Sie es beiseite und suchen Sie sich ein Neues.
  • Versuchen Sie, Lesen regelmäßig in Ihren Alltag einzubauen und so zur Gewohnheit zu machen - zum Beispiel, indem Sie jeden Tag 20 Minuten vor dem Einschlafen lesen.
  • Legen Sie Ihr Smartphone am besten in einen anderen Raum, wenn Sie sich zum Lesen hinsetzen. So vermeiden Sie Ablenkung.
  • Wenn dicke, schwere Bücher Sie abschrecken, könnte ein E-Book-Reader eine gute Alternative sein.
  • Sprich mit anderen über das Gelesene, sei es mit Freunden, in einem Buchclub oder in Online-Foren.

Motivationstipps für Kinder und Eltern

  • Beginnen Sie mit kleinen Schritten. Sie können sich zu Beginn auch mit Lesen und Vorlesen abwechseln.
  • Wichtig ist, Leseanfänger und -anfängerinnen beim lauten Lesen nicht ständig zu korrigieren. Das demotiviert.
  • Verbinden Sie Lesen mit einem Ritual. Sie können zum Beispiel immer in einer gemütlichen Ecke gemeinsam lesen oder immer die gleiche (Lese-)Lampe anmachen. Vielleicht will auch ein Kuscheltier mitlesen.
  • Setzen Sie kleine Ziele und machen Sie Ihr Kind auf Fortschritte aufmerksam - zum Beispiel, wenn es zehn Minuten am Stück oder ein ganzes Buch gelesen hat.
  • Bei Kindern, die bisher nicht so gern ein Buch zur Hand genommen haben, ist es sinnvoll, den richtigen Zeitpunkt fürs Lesen abzupassen. Zum Beispiel 15 Minuten vor dem Zubettgehen statt tagsüber mitten beim Spielen.
  • Bücherlesen muss nicht teuer sein. Mit einem Bibliotheksausweis können Sie für sich und Ihre Kinder kostengünstig Bücher, Comics und Co. ausleihen.

Die Rolle der Bildung

Lesen ist wichtig, um sich schulisch und beruflich zu entwickeln - und um in unserer Gesellschaft und Politik richtig teilzunehmen. Wer keine Wahlprogramme und Zeitungsartikel lesen kann, hat es schwerer, eigene fundierte Entscheidungen zu treffen. Neben diesen Aspekten wirkt sich Lesen aber auch positiv auf deine Konzentrationsfähigkeit und dein Erinnerungsvermögen aus.

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