Wir alle kennen Momente, in denen unser Nervensystem in Alarmbereitschaft ist: Herzrasen, angespannte Muskeln, plötzliches Erstarren. In der heutigen Zeit, in der ständige Erreichbarkeit und hoher Leistungsdruck an der Tagesordnung sind, ist es umso wichtiger, das Nervensystem gezielt zu beruhigen. Dieser Artikel erklärt den Aufbau des Nervensystems, die Stressreaktion und zeigt Techniken, um das Nervensystem zu regulieren und mehr innere Ruhe zu finden.
Das Wichtigste in Kürze
Ein überreiztes Nervensystem äußert sich durch Symptome wie Herzklopfen, Schlafstörungen und ständige Anspannung. Der Vagusnerv spielt eine wichtige Rolle beim Entspannen und lässt sich durch Atemtechniken, Kälte und Körperübungen aktivieren. Kurzfristig beruhigt etwa die 4-7-8-Atemtechnik, während langfristige Regulierung bei chronischem Stress Wochen bis Monate dauern kann. Hilfreich dabei sind vor allem Bewegung, Vagusnerv-Stimulation und Ansätze wie bestimmte Atemtechniken.
Wann ist das Nervensystem überreizt?
Viele Menschen kennen das Gefühl, ständig „unter Strom” zu stehen. Bevor man das Nervensystem beruhigen kann, ist es wichtig zu erkennen, wann es überreizt oder dysreguliert ist. Dysreguliert bedeutet, dass das Nervensystem aus dem Gleichgewicht geraten ist und nicht mehr angemessen auf Reize reagiert. Jeder Mensch hat ein individuelles Stresstoleranzfenster - einen Bereich, in dem er mit Herausforderungen umgehen kann, ohne dass das Nervensystem aus dem Gleichgewicht gerät.
Symptome eines überreizten Nervensystems
Zu den häufigsten Anzeichen eines überreizten Nervensystems gehören:
- Herzklopfen
- Schlafstörungen
- Chronische Verspannungen
- Reizbarkeit
- Konzentrationsprobleme
- Verdauungsstörungen
- Das Gefühl, ständig „unter Strom” zu stehen
Der erste Schritt, um das Nervensystem zu unterstützen, ist, diese Warnsignale bewusst wahrzunehmen.
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Das Nervensystem verstehen
Das Nervensystem lässt sich mit einem riesigen Kommunikationsnetzwerk vergleichen, das Informationen aus der Umwelt aufnimmt und an Gehirn oder Rückenmark weiterleitet. Dort werden passende Reaktionen gesteuert, die dann wieder über das periphere Nervensystem an den Körper zurückgegeben werden. Die Nerven, die zum somatischen Nervensystem gehören, sind vor allem für die Bewegungsabläufe unseres Körpers zuständig.
Das vegetative Nervensystem
Wenn davon die Rede ist, dass unser Nervensystem in Aufruhr ist und wir das Nervensystem regulieren wollen, dann geht es dabei aber vor allem um das vegetative bzw. autonome Nervensystem. Das vegetative Nervensystem können wir zum Großteil nicht direkt steuern (daher auch „autonom”). Es funktioniert ohne willentliches Zutun. Das vegetative Nervensystem ist nämlich ständig aktiv und reguliert alle unsere Körperfunktionen, die immer ablaufen müssen, egal ob wir gerade daran denken oder nicht.
Das vegetative Nervensystem besteht aus zwei Hauptkomponenten:
- Sympathikus: Der Sympathikus ist wie dein innerer Turbo-Modus. Er aktiviert unseren Körper und bereitet uns auf körperliche oder geistige Leistungen vor (oft als „Kampf-oder-Flucht-Reaktion” bezeichnet).
- Parasympathikus: Der Parasympathikus ist dein innerer Entspannungsmodus. Er sorgt für Erholung, aktiviert die Verdauung und kurbelt verschiedene Stoffwechselvorgänge an.
Der Vagusnerv: Dein wichtigster Entspannungsnerv
Ein Teil des parasympathischen Nervensystems ist der Vagusnerv („Nervus vagus”) - der längste Hirnnerv deines Körpers. Der Vagusnerv ist wie eine „Bremse” für dein vegetatives Nervensystem. Wenn er aktiviert wird, sendet er Signale an Herz, Lunge und andere Organe, um deinen Körper zu beruhigen. Das Besondere: Den Vagusnerv kann man durch gezielte Übungen wie Atemtechniken, Kältereize oder Summen bewusst aktivieren.
Die Polyvagal-Theorie (Porges, 2009) hat unser Verständnis des vegetativen Nervensystems stark erweitert:
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- Soziales Engagement (ventraler Vagus): Sicherheit, Verbindung, Ruhe - das Erdgeschoss, wo du dich wohlfühlst.
- Kampf-oder-Flucht (Sympathikus): Alarmbereitschaft und Mobilisierung bei Gefahr - die Garage.
- Erstarrung/Kollaps (dorsaler Vagus): Totaler Shutdown als Schutz - das Kellergeschoss.
Das Nervensystem entscheidet, je nach wahrgenommener Sicherheit oder Bedrohung, in welchem Bereich man sich befindet. Besonders interessant: 80 % der Vagusnerv-Fasern sind afferent, das bedeutet, sie senden Informationen vom Körper zum Gehirn statt andersherum.
Die Stressreaktion
In Gefahrensituationen und bei Stress wird vom Sympathikus eine Kaskade neurologischer und hormoneller Reaktionen ausgelöst, die uns helfen sollen, die Situation zu bewältigen: Adrenalin sorgt dafür, dass deine Muskeln besser durchblutet werden, Cortisol hält dich auf Trab und Endorphine helfen dir nicht in Panik zu verfallen. Dein Herzschlag beschleunigt sich, dein Blutdruck steigt und du atmest schneller. Die Muskeln sind angespannt, die Schmerzempfindlichkeit nimmt ab und deine Sinne sind geschärft.
Chronischer Stress und sympathische Dominanz
Aktuelle Forschungen zeigen, dass chronischer Stress zu einer dauerhaften sympathischen Dominanz führen kann (Goldstein, 2023).
Die Entwicklung der Stressreaktion im Laufe der Zeit
Stellen wir uns einmal in der Steinzeit vor: Die Gefahr ist ein nahender Säbelzahntiger. Was machst du? Nicht du, sondern dein Gehirn entscheidet in weniger als einer Sekunde, welche Reaktion dir die beste Chance zu überleben bietet. Entweder wird Kampf (Fight) aktiviert oder aber dein Gehirn entscheidet, dass Flucht (Flight) deine beste Chance ist. Du rennst also und schaffst es zu entkommen. Sobald die Gefahr vorbei ist, fährt dein Körper alle Stressreaktionen wieder herunter: Herzschlag und Atmung beruhigen sich, die Muskeln entspannen. Du bist zutiefst erleichtert und vielleicht empfindest du sogar Dankbarkeit.
Die gute Nachricht ist, in vielen Situationen, in denen es kurzfristig zur Aktivierung des Sympathikus und einer der obigen Reaktionen kommt (wie ein lauter Knall, ein plötzlich auftauchendes Auto oder ein bellender Hund), ist der Körper schon ganz gut darin, den Stressreaktionszyklus zu beenden und das Nervensystem selbst wieder zu beruhigen, sobald die Gefahr gebannt ist.
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Anders ist das jedoch in Zeiten, in denen wir unter Dauerbelastung stehen. In unserer heutigen modernen Zeit haben sich die Bedrohungen etwas geändert. War es bei unseren Vorfahren noch der Säbelzahntiger, vor dem es wegzurennen oder gegen den es anzukämpfen galt, so sind die Stressfaktoren heute ganz andere. Dauernde Anspannung durch ständige Erreichbarkeit, Überstunden, Großstadtlärm, Mental Load und tausend To-dos lässt sich nicht so schnell abschütteln. Das führt dazu, dass wir manchmal gar nicht so richtig in die Parasympathikus-Reaktion kommen, weil der Sympathikus einfach dauerhaft aktiviert bleibt - wir also dauerhaft „unter Strom” stehen. Und selbst wenn wir es an einem Tag schaffen, den Stresszyklus zu beenden, dann tritt die gleiche Belastung am nächsten Tag oft wieder auf.
» Das Nervensystem reagiert nicht auf die tatsächlichen Ereignisse, sondern auf unsere Interpretation dieser Ereignisse. Dr. Daniel J. Siegel
Dauer der Beruhigung des Nervensystems
- Akute Stressreaktionen: Bei normalen, kurzzeitigen Stressreaktionen kann sich das vegetative Nervensystem innerhalb von 20 - 30 Minuten wieder beruhigen.
- Chronischer Stress: Bei längerer Belastung kann es Wochen bis Monate dauern, bis sich das dysregulierte Nervensystem wieder stabilisiert.
- Traumabedingte Dysregulation: Die Regulation ist ein individueller Prozess, der unterschiedlich lange dauern kann und bei dem sich professionelle Unterstützung empfiehlt.
Wichtig: Dein Nervensystem zu regulieren ist ein Prozess, kein Ereignis.
Techniken zur Beruhigung des Nervensystems
Es gibt zahlreiche Techniken, um das Nervensystem zu beruhigen und die Resilienz zu stärken. Hier sind einige effektive Methoden:
1. Atemtechniken
Atemübungen sind eine der effektivsten und einfachsten Methoden, um das Nervensystem zu beruhigen und Resilienz aufzubauen. Wenn wir gestresst sind, neigen wir dazu, flach und schnell zu atmen, was unser Nervensystem zusätzlich belastet. Tiefe, bewusste Atemzüge hingegen signalisieren Deinem Körper, dass keine Gefahr besteht, und können den Parasympathikus - den beruhigenden Teil des Nervensystems - aktivieren.
- Die 4-7-8-Atemtechnik: Atme vier Sekunden lang ein, halte den Atem sieben Sekunden lang an und atme dann acht Sekunden lang aus. Diese Übung hilft, den Herzschlag zu verlangsamen und die Gedanken zu beruhigen. Diese Atmung aktiviert direkt den Parasympathikus (also den „Entspannungsnerv").
- Zwerchfellatmung (Diaphragmatic Breathing): Zwerchfellatmung aktiviert das parasympathische Nervensystem und verbessert die Herzratenvariabilität. Studien zeigen, dass Zwerchfellatmung den Cortisol-Spiegel reduzieren kann.
- Box-Breathing: Auch als Vier-Quadrat-Atmung bekannt. Sie nennt sich so, weil alles mit der Zahl Vier zu tun hat. Beim Atmen stellt man sich den Körper wie eine Box vor, die sich beim Einatmen mit Luft füllt und beim Ausatmen wieder zusammensinkt. Die gesamte Übung sollte mehrfach wiederholt werden:- Einatmen (4 Sekunden)- Luft anhalten (4 Sekunden)- Ausatmen (4 Sekunden)- Luft anhalten (4 Sekunden)
2. Körperliche Aktivität
Körperliche Aktivität hilft dir, das ausgeschüttete Adrenalin und Cortisol abzubauen und signalisiert dem Gehirn, dass die Gefahr vorüber ist - so kann sich das Nervensystem wieder sicher und ausgeglichener anfühlen. Körperliche Aktivität wird auch als besonders hilfreich erlebt, um den Stressreaktionszyklus zu beenden und so langfristig auch einem Burnout - einer der häufigsten Folgen von chronischem Stress - vorzubeugen.
3. Vagusnerv-Stimulation
Da der Vagusnerv so zentral für deine Entspannung ist, gibt es spezielle Übungen, um ihn zu stimulieren und entspannter zu werden. Effektive Selbststimulation gelingt durch:
- Singen
- Summen
- Zwerchfellatmung
- Gurgeln
- Kältereize setzen (kalte Dusche am Morgen)
4. Meditation und Achtsamkeit
Ähnlich wie die vorgestellten Atemübungen können regelmäßige Meditation und Achtsamkeitsübungen den Geist und das Nervensystem beruhigen und dir bei regelmäßiger, täglicher Übung helfen, deine Stressresilienz zu stärken. Bereits wenige Minuten am Tag reichen aus. Yoga gegen Stress und Yoga gegen Angst verbinden körperorientierte Ansätze mit Atemarbeit und können besonders effektiv sein, um das Nervensystem zu beruhigen.
5. Schlafhygiene
Wenn wir ohnehin in einer stressreichen Lebensphase stecken, belastet es unseren Körper und unser vegetatives Nervensystem noch mehr, wenn wir nicht ausreichend Schlaf erhalten. Denn guter Schlaf ist essenziell, um das Nervensystem beruhigen zu können. Sorge deswegen dafür, dass du genug Ruhezeit in der Nacht hast und nutze die 10 Regeln der Schlafhygiene, um deinen Schlaf zu verbessern.
6. Emotionen zulassen
Manchmal neigen wir dazu, uns nicht zu erlauben, unsere Emotionen herauszulassen. Man möchte nicht das vermeintliche Klischee der „hysterischen Frau” bedienen oder du lebst mit dem Glaubenssatz, dass „Männer nicht weinen” dürfen. Aber ganz ehrlich - manchmal kann es richtig guttun, einfach mal die angestauten Emotionen herauszulassen. Mach dir traurige Musik an, such dir einen Ort, an dem du ungestört bist, und erlaube dir, einfach mal für ein paar Minuten zu weinen. Danach die Nase putzen, tief seufzen und oft fühlst du dich danach schon viel erleichterter und befreiter.
7. Soziale Interaktion
Lockere, freundliche und liebevolle soziale Interaktionen sind ein gutes äußeres Zeichen, dass die Welt ein sicherer Ort ist. Mach vielleicht jemandem ein unerwartetes Kompliment. So kannst du deinem Gehirn ganz einfach vermitteln, dass die Welt ein sicherer Ort ist und dass nicht alle Menschen ätzend sind.
8. Erdung
Indem wir uns aktiv erden, unsere Füße spüren und unsere Knie locker machen, stellen wir eine tiefe Verbindung mit der Erde und der gemeinsamen Realität um uns herum her.
- Stellen Sie im Sitzen Ihre Füße flach auf den Boden. Gehen sie zwischen Vorderfuß und Ferse hin und her: Heben Sie den Vorderfuß an und senken Sie den Vorderfuß. Und heben Sie die Ferse an und senken Sie die Ferse. Gehen sie mehrere Minuten lang durch einige Zyklen.
9. Orientierung
Sich auf ein Gefühl von Sicherheit hin zu orientieren, bedeutet zu prüfen, ob wir sicher sind. Durch die Bewegung unseres Halses können wir nach potenziellen Bedrohungen um uns herum suchen. Dies ermöglicht es, uns mit der aktuellen Realität auseinanderzusetzen, unsere Sicherheit einzuschätzen und die anstehenden Probleme effektiv anzugehen.
- Bewegen Sie Ihren Hals für eine 180-Grad-SichtFolgen Sie im Sitzen oder Stehen Ihrer Nase mit Ihrem Blick und drehen Sie Ihren Kopf langsam in beide Richtungen, indem Sie Ihren Hals bewegen. Drehen Sie Ihren Kopf / Ihre Blickrichtung sanft ganz nach links und rechts, ohne sich zu dehnen oder Schmerzen zu verursachen. Schauen Sie, während Sie die Bewegung ausführen, was sich um Sie herum befindet.
10. Schütteln
Das Schütteln des Körpers ist eine einfache, aber äußerst wirkungsvolle Technik, um Dein Nervensystem zu regulieren und Deine Resilienz zu stärken. Durch das Schütteln werden Muskeln entspannt und gleichzeitig angestaute Emotionen oder Stress aus dem Körper geschüttelt. Schüttle Deinen Körper für ein bis zwei Minuten kräftig durch, am besten in einem entspannten und geschützten Umfeld, und spüre danach, wie sich Deine innere Anspannung löst.
11. Selbstmassage
Seitlich beide Handflächen außen an den Hals legen und mit sanften Bewegungen zwischen Ohr und Schulterübergang kreisend über die Haut streichen. Der Vagusnerv verläuft seitlich am Hals entlang. Das ist auch die ideale Stelle, um ihn von außen durch leichten Druck anzuregen.
12. Akupressur
Für eine Selbst-Akupressur den Punkt in der Ohrmuschel, der mit dem Vagusnerv in Verbindung steht, 30 Sekunden drücken und wieder loslassen. Mehrmals wiederholen.
Individuelle Strategien finden
Welche dieser Strategien ist nun die beste für dich? Das ist am Ende ganz individuell und kann sich je nach Tag und Situation unterscheiden. Probiere einfach mal ein paar aus und schau, was dir am besten hilft, um dein Nervensystem zu beruhigen.
Wann professionelle Hilfe suchen?
Besonders bei chronischem Stress ist es wichtig, das vegetative Nervensystem zu beruhigen. Mach dir bewusst: Die Regulation des vegetativen Nervensystems ist ein Prozess. Sei geduldig mit dir selbst und erwarte nicht, dass alles sofort perfekt funktioniert. Besonders bei einem dysregulierten Nervensystem oder nach einem Trauma braucht es Zeit und möglicherweise professionelle Unterstützung.
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