Wie viel Prozent des Gehirns nutzen wir wirklich? Ein Mythos im Faktencheck

Filme wie "Lucy" oder "Ohne Limit" haben die Frage aufgeworfen, zu welchen Leistungen unser Gehirn fähig ist, insbesondere wenn wir angeblich seine volle Kapazität ausschöpfen könnten. Diese Filme sind zwar unterhaltsam, doch ihre Behauptungen über das Gehirn sind aus neurowissenschaftlicher Sicht unbegründet. Der Mythos, dass wir nur einen kleinen Teil unseres Gehirns nutzen, ist weit verbreitet und hält sich hartnäckig, obwohl zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse ihn widerlegen.

Die Ursprünge des Mythos

Es ist schwierig, den genauen Ursprung des "10-Prozent-Mythos" zu bestimmen. Er könnte auf spekulativen Interpretationen von frühen Forschungsergebnissen zur Gehirnkapazität beruhen, die verzerrt dargestellt und über die Jahre von verschiedenen Neurowissenschaftlern weitergegeben wurden. Einige Quellen nennen den Psychologen William James, Albert Einstein oder die Ethnologin Margaret Mead als Urheber, aber es gibt keine stichhaltigen Beweise, die diese Behauptungen stützen. Auch bildgebende Verfahren wie die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) und die Positronenemissionstomografie (PET) zur Erforschung von Gehirnfunktionen oder Diagnose von Krankheiten wie Alzheimer spielen eine Rolle bei der Geschichte der Zehn-Prozent-Regel. Denn sie zeigen, dass zu jedem Zeitpunkt nur kleine Teile des Gehirns aktiv sind. In jüngster Zeit wurde die These der zehnprozentigen Nutzung von Scientology-Gründer Ron Hubbard aber auch von Illusionist Uri Geller weiterverbreitet. Sie nutzten beide den Mythos, um das ungenutzte Potenzial menschlichen Denkens und Handelns hervorzuheben - und ihre „Botschaften“ damit zu untermauern. Ihre Devise war, die restlichen 90 Prozent zu aktivieren.

Warum der Mythos falsch ist

Es gibt zahlreiche Argumente, die gegen die Vorstellung sprechen, dass wir nur 10 Prozent unseres Gehirns nutzen:

  • Evolution: Das Gehirn macht nur etwa 2 % der Körpermasse aus, verbraucht aber etwa 20 % der gesamten Energie des Körpers. Es wäre aus evolutionärer Sicht unlogisch, dass der Körper so viel Energie für einen größtenteils ungenutzten Hirnbereich aufwendet. Ungenutzte Zellen oder Gewebe tendieren nämlich dazu zu verkümmern. Eindrucksvoll sieht man das zum Beispiel an den sofort schrumpfenden Muskeln, wenn eine Gliedmaße im Gipsverband liegt. Genauso würden sich auch ungenutzte Gehirnteile nach kurzer Zeit zurückbilden, was ähnliche Auswirkungen hätte wie beispielsweise ein Schlaganfall.
  • Hirnschädigungen: Schädigungen des Gehirns, beispielsweise durch einen Unfall oder einen Schlaganfall, führen fast immer zu Beeinträchtigungen. Wenn wir tatsächlich nur 10 Prozent unseres Gehirns nutzen würden, wären die meisten Hirnschädigungen ohne Folgen. Das heißt im Umkehrschluss, dass all die betroffenen Hirnregionen vorher zu etwas gut gewesen sein müssen.
  • Bildgebende Verfahren: Moderne bildgebende Verfahren wie fMRT und PET zeigen, dass das gesamte Gehirn aktiv ist, wenn auch nicht immer gleichzeitig. Verschiedene Bereiche des Gehirns werden für unterschiedliche Aufgaben genutzt, und selbst im Schlaf ist ein großer Teil des Gehirns aktiv. Egal mit welcher Methode man die Aktivität des Gehirns misst, es sind immer mehr als 10% der Zellen aktiv - selbst im Schlaf.
  • Neuroplastizität: Das Gehirn ist plastisch und kann sich an neue Umstände anpassen. Studien beweisen, dass sich Gehirne an neue Umstände anpassen. Durch Schwangerschaften oder beispielsweise auch neue Jobs verändern sich Gehirne, wie eine Studie an Taxifahrern aus London aufzeigt: Das Einprägen von Straßennetzen führte dazu, dass sich bestimmte Bereiche für räumliche Orientierung im Gehirn vergrößerten. Die Wissenschaft spricht von einem plastischen Gehirn. Wenn ein Bereich des Gehirns geschädigt wird, können andere Bereiche seine Funktionen übernehmen. Diese Fähigkeit zur Anpassung deutet darauf hin, dass alle Bereiche des Gehirns potenziell genutzt werden können.

Das Gehirn als Orchester

Eine treffende Analogie für die Funktionsweise des Gehirns ist die eines Orchesters. Die verschiedenen Instrumente stehen für die verschiedenen Zelltypen, die es im Gehirn gibt. Es gibt Zellen, die Signale für die Muskeln geben, damit wir laufen können. Es gibt Zellen, die unsere Sprache steuern, andere sorgen dafür, dass wir jeden Abend den Weg nach Hause finden. Es gibt aber auch Zellen, die für die Versorgung anderer Zellen zuständig sind. Sie gewährleisten, dass immer die richtige Mischung an Zutaten für deren Arbeit zur Verfügung steht. Die Mehrheit der Zellen im Gehirn sind Versorgerzellen, ohne die andere Zellen ihre Arbeit nicht verrichten könnten. Im Gehirn gibt es deshalb keine Arbeitslosigkeit - und bestimmt keine, die 90 Prozent beträgt! Welcher Gedanke gerade gedacht wird oder welche Bewegung ausgeführt wird, bestimmt, welche Zellen gerade besonders aktiv sind. Genauso wie in einem Orchester sind die Zellen im Gehirn aber nicht alle gleichzeitig aktiv. Wer nach wem spielt, macht die Melodie aus, die gerade gespielt wird.

Gehirnaktivität und Energieverbrauch

Gehirnaktivität kostet Energie, und zwar sehr, sehr viel. Obwohl das Gehirn nur etwa zwei Prozent des Körpergewichts ausmacht, verbraucht es mit etwa 20 Watt ungefähr 20 Prozent der Energie. Das ist zwar weniger, als handelsübliche Glühbirnen benötigen, aber extrem viel im Vergleich zu anderen Körperfunktionen. Jede Körperzelle muss Energie sparen. Das gilt ganz besonders für die Gehirnzellen, denn diese unterliegen einem noch größeren Energie-Sparzwang. Sie müssen ihre Aktivität so gering wie möglich halten und diese untereinander so koordinieren, dass sie zwar die Bewegung der Muskeln oder die Gedanken richtig auf- einander abstimmen, aber dabei auch so wenig Energie wie möglich verbrauchen. Nur so ist ihre Aktivität für den Körper immer noch „bezahlbar“.

Lesen Sie auch: Was Sie über Krämpfe durch zu viel Magnesium wissen sollten

Mythen rund um das Gehirn

Neben dem 10-Prozent-Mythos gibt es noch weitere verbreitete Irrtümer über das Gehirn:

  • Geschlechtsspezifische Gehirne: Die Vorstellung, dass es geschlechtsspezifische Gehirne gibt, die unterschiedlich funktionieren, ist ebenfalls unbegründet. Männliche und weibliche Gehirne unterscheiden sich zwar in Größe, Synapsendichte und Lokalisation, aber daraus lassen sich keine allgemeingültigen geschlechtsspezifischen Unterschiede ableiten.
  • Dominante Gehirnhälfte: Der Mythos, dass die linke Gehirnhälfte für logisches Denken und die rechte für Kreativität zuständig ist, ist ebenfalls falsch. Beide Gehirnhälften sind durch starke neuronale Verbindungen vernetzt und arbeiten zusammen, um kreatives und analytisches Denken zu ermöglichen.

Gehirntraining und geistige Fitness

Es ist möglich, das Gehirn durchTraining zu fordern und zu fördern. Dennoch: Diese neuronale Plastizität des Gehirns hat ihre natürlichen Grenzen.

Viele ältere Menschen trainieren mit Logikrätseln, Knobelaufgaben und Zahlenspielen, um geistig fit zu bleiben und Alterskrankheiten wie Demenz oder Alzheimer aufzuhalten. Unternehmen versprechen mit täglichem „Gehirnjogging“ sogar eine Steigerung der Gehirnleistung von bis zu 40 Prozent. Doch hier ist Vorsicht geboten.

Auch Wissenschaftler unterstreichen den positiven Effekt des Gehirntrainings durch regelmäßige Gedächtnisaufgaben, doch der Nutzen und Effekt lässt sich nur schwer beweisen. „Gehirnjogging“ zeigt eigentlich nur, dass regelmäßiges Üben Fertigkeiten verbessert und Aufgaben in der Wiederholung besser gelöst werden. Dass dabei die Gehirnleistung verbessert wird, ist nicht bewiesen.

Trotzdem kann man auch noch im hohen Alter davon Nutzen ziehen, dass das Gehirn plastisch und formbar ist - ein Leben lang. Denn das heißt, dass auch ältere Menschen ihr Gehirn trainieren können und zum Beispiel auch noch im Alter eine neue Sprache oder ein Instrument lernen können. Denn besser gegen Demenz helfen lebenslange geistige Herausforderungen.

Lesen Sie auch: Was wiegt ein menschliches Gehirn?

Denn wer sein Gehirn ein Leben lang auf vielfältige Art und Weise sowie in unterschiedlichsten Bereichen wie Bildung, Beruf und Freizeit herausfordert, bleibt auch im Alter geistig (und auch körperlich) aktiv. Dabei helfen zusätzlich soziale Kontakte und Sport, um mentalen Abbau ganzheitlich zu vermeiden.

Ernährung und Gehirnleistung

Auch die Ernährung spielt eine wichtige Rolle für die Gehirnleistung. Der Mythos, Traubenzucker würde beim Lernen helfen, hält sich seit Jahrzehnten hartnäckig. Anscheinend soll Zucker während einer Klausur oder bei Hausaufgaben schnell Energie liefern und die Konzentration stärken. Doch leider ist das ein Trugschluss, denn Traubenzucker oder Schokolade liefer nur kurzfristig Energie - nicht länger als gerade mal 20 Minuten. Längere Konzentration erzielt man nur mit konstantem Blutzuckerspiegel.

Den Blutzuckerspiegel langfristig stabil zu halten gelingt dabei nicht mit Zucker, sondern mit langkettigen Kohlenhydraten, die etwa in Vollkornprodukten zu finden sind. Am besten frühstückt man deshalb ein Vollkorn-Müsli mit Obst, Milch oder Joghurt vor einer Klausur. Wer schnell einen Energieschub braucht, setzt besser auf eine Banane oder Apfel mit einer Handvoll Nüssen.

Musik und Intelligenz

1993 wurde an der University of California der sogenannte Mozart-Effekt entdeckt. Dieser beschreibt, dass Intelligenztests nach dem Hören einer Klaviersonate von Mozart besser gelöst wurden. Seitdem glauben viele Menschen, dass Mozart- oder auch andere vor allem klassische Musik, positive Auswirkungen auf die Intelligenz hat. Ein weiteres Experiment revidierte jedoch den Mozart-Effekt.

Eine Vergleichs-Studie mit Nicht-Mozart-Musik zeigte einen ähnlichen Effekt. Nach dem Hören von Musik zeigten Probanden ein gesteigertes räumliches Denkvermögen. Auch Kinder, die Musikunterricht erhielten, wiesen bessere Gedächtnisleistungen auf. Doch ob die erhöhten IQ-Werte tatsächlich in Korrelation mit der Musik stehen, muss weiter erforscht werden.

Lesen Sie auch: Delfine: Mehr als nur verspielte Meeressäuger

Schlaf und Gehirn

Gesunder Schlaf ist auch für das Gehirn äußerst wichtig. Eine Studie aus der Schweiz legt sogar dar, dass im Tiefschlaf eine fremde Sprache gelernt werden kann.

tags: #wie #viel #prozent #des #gehirns #nutzen