Wie viel Prozent des Gehirns nutzen Delfine? Wissenschaftliche Studien enthüllen faszinierende Einblicke

Im August machten Nachrichten die Runde, die viele Menschen in ihrem Glauben an die Intelligenz von Delfinen bestärkten. Der Meeresbiologe Jason Bruck von der Universität Chicago fand in einer Studie heraus, dass in Gefangenschaft gehaltene Große Tümmler Artgenossen auch nach 20 Jahren an ihren charakteristischen Pfeiflauten erkennen. Ein solches soziales Gedächtnis war bislang nur vom Menschen bekannt. Diese Erkenntnisse tragen zum Bild der sozial kompetenten Superhirne bei, die oft auf einer Stufe mit Menschenaffen gesehen werden.

Dieses Bild basiert jedoch weniger auf Forschungsergebnissen als vielmehr auf Legenden um die Meeressäuger. Die Idee von der überragenden Intelligenz der Delfine verbreitete sich erstmals in den späten 1950er Jahren durch den Arzt und New-Age-Vordenker John Lilly. Er behauptete, Delfine würden ihre eigene Sprache sprechen - „Delfinisch“ - und versuchte, ihnen Englisch beizubringen. Auch die Fernsehserie „Flipper“ trug zu dieser Vorstellung bei.

Delfine: Keine seltene Ausnahme im Tierreich?

In den letzten Monaten gab es jedoch vermehrt Publikationen, die eine Ausnahmestellung der Delfine in Frage stellen. Der Biopsychologe Justin Gregg vom Dolphin Communication Project stellt in seinem Buch „Are Dolphins Really Smart?“ die Frage, ob unser Medienbild der Delfine nicht an der Realität vorbeischrammt.

Der Neuroanatom Paul Manger von der University of the Witwatersrand in Johannesburg kritisierte in einer Veröffentlichung im Fachjournal „Neuroscience“ die Auswertung vieler Verhaltensexperimente mit Delfinen. Und die Psychologin Heidi Harley vom New College of Florida bezweifelt, dass Delfinen aufgrund der bisherigen Daten Selbstbewusstsein zugeschrieben werden kann.

Die Größe des Delfinge Hirns: Nicht alles, was glänzt, ist Gold

Als Lilly in den 1950er Jahren begann, sich mit Großen Tümmlern zu beschäftigen, war er fasziniert von der Tatsache, dass diese Meerestiere relativ zu ihrem Körpergewicht ein sehr großes Gehirn besaßen. Sie nehmen unter Säugetieren den zweiten Rang ein, gleich hinter dem Menschen und noch vor den Schimpansen.

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Doch die große Hirnstruktur der Delfine hält weniger, als sie auf den ersten Blick verspricht. Bereits Ende der 1990er Jahre veröffentlichte der Biopsychologe Onur Güntürkün von der Universität Bochum einen Artikel über die Gehirnanatomie der Delfine. Er fand heraus, dass die Großhirnrinde (Kortex) trotz des großen Gehirns sehr dünn war. Außerdem fehlte dem Kortex im Vergleich zu anderen Säugetieren eine Schicht an Nervenzellen (Neuronen), und es waren weniger Neuronen pro Säule vorhanden. „Hätten Forscher früher das große Delfingehirn nicht als Beleg für höhere Intelligenz gesehen, gäbe es heute womöglich gar keine so aufgeregte Debatte um ihre kognitive Kapazität“, so Güntürkün.

Verhaltenstests im Fokus

Experten sind sich heute einig, dass sorgfältige Verhaltenstests wichtiger sind als die Gehirnanatomie. In den letzten Jahrzehnten wurden Delfine ausgiebig auf jegliches Anzeichen intelligenten Verhaltens hin beobachtet: Werkzeuggebrauch, kooperatives Verhalten, der Mengenbegriff, das Verständnis der menschlichen Zeigegeste oder generationenübergreifenden Wissenstransfer. Einige Wissenschaftler, Philosophen und Tierrechtsaktivisten haben diese Studien zum Anlass genommen, sogar Persönlichkeitsrechte für Wale und Delfine zu fordern.

Die Datenlage für wichtige Studien wie den Werkzeuggebrauch ist jedoch nach wie vor dünn. So nutzen Delfine in der Shark Bay an der Westküste Australiens Schwämme, mit denen sie den Meeresboden durchwühlen. Einige Forscher deuten das als Werkzeug, doch Skeptiker wie Gregg und Manger bemängeln, dass sich das Verhalten nur bei einigen Delfinen beobachten lässt und der Zweck nicht klar sei.

Andere Studien zum Symbolverstehen der Delfine sind zwar beeindruckend, doch diese Talente finden sich auch bei vielen anderen Tierarten, etwa Hunden. Als Gipfel kognitiver Leistung gilt im Tierreich aber nach wie vor das Ich-Bewusstsein, das anhand der Selbsterkennung im Spiegel gemessen wird. In einem Experiment mit Delfinen will die US-Meeresbiologin Lori Marino beobachtet haben, wie zwei Delfine vor Spiegeln ausgiebig Farbflecken an der Seite ihres Körpers betrachteten. Doch die Deutung des Verhaltens ist umstritten. Paul Manger wirft ein, Delfine sähen nicht gut genug, um die Markierungen überhaupt zu erkennen. Heidi Harley kritisiert, das Verhalten der Delfine vor den Spiegeln sei zudem mehrdeutig. Und ohnehin beherrschen auch Schimpansen, Orang-Utans, Gorillas, Indische Elefanten und sogar Elstern die Kunst der Selbstbespiegelung.

„Einige kognitive Spezialisierungen allein reichen nicht aus, dass man Delfine außerhalb des Tierreichs stellt“, sagt Güntürkün. „Ihre kognitive Überlegenheit ist ein Mythos, aber nicht Wissenschaft.“

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Delfine und ihre Kommunikation: Mehr als nur Pfeifen?

Besonders die Vielfalt an Tönen, die Delfine unter Wasser produzieren, beschäftigt die Wissenschaft. Hochfrequenz-Aufnahmegeräte können das ganze Spektrum der Laute unter Wasser einfangen, neue Auswertungsprogramme ermöglichen eine genauere Analyse der Aufzeichnungen. Forscher versuchen nun, diese Technologien zu nutzen, um mit den Säugetieren in Austausch zu treten.

Wissenschaftler versuchen seit Langem herauszufinden, was die Töne bedeuten, die Delfine von sich geben. Diese höchst sozialen Tiere mit ihrem großen Gehirn würden sicher nicht so viel Energie darauf vergeuden, unter Wasser zu plappern, wenn diese Äußerungen nicht irgendeinen sinnvollen Inhalt hätten. Aber auch nach einem halben Jahrhundert der Forschung kann bisher niemand sagen, was die Grundeinheiten der Lautäußerungen bei Delfinen sind und wie sie von den Tieren zusammengesetzt werden, um Informationen zu vermitteln.

Nach Ansicht von Stan Kuczaj, einem Experten für vergleichende Psychologie, könnte die Arbeit mit synchronisierten Delfinen den Schlüssel zu ihrer Kommunikation liefern. Einen Beweis dafür, dass es so etwas wie eine Delfinsprache gibt, hat bisher niemand gefunden. Manche Wissenschaftler behaupten, der Grund dafür liege auf der Hand: Die „Delfinsprache“ sei nur eine fixe Idee von ein paar maritimen Romantikern - es gibt sie in Wahrheit gar nicht. Doch Kuczaj und andere verweisen auf die Vielzahl von Indizien: Man sei das Problem nur noch nicht auf die richtige Weise und mit den richtigen Hilfsmitteln angegangen.

Die Evolution der Delfinintelligenz

Ehe vor vielleicht sechs oder sieben Millionen Jahren unsere eigene Gattung ihren kometenhaften Aufstieg startete, waren vermutlich die Delfine einige zehn Millionen Jahre lang die Tiere mit dem größten Gehirn auf unserem Planeten - und wohl auch mit der höchsten Intelligenz. Im Verhältnis zur Körpergröße ist ihr Gehirn bis heute eines der größten im Tierreich, größer sogar als das der Schimpansen.

Der letzte gemeinsame Vorfahr von Menschen und Schimpansen lebte vor rund sechs Millionen Jahren. Die Ahnen der Meeressäuger, zu denen die Delfine und Wale zählen, spalteten sich dagegen bereits vor etwa 55 Millionen Jahren von der Abstammungslinie der restlichen Säugetiere ab. Der letzte gemeinsame Urahn der Delfine und der Primaten lebte vermutlich gar schon vor 95 Millionen Jahren.

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Bei Primaten sind die großen Stirnlappen für Entscheidungs- und Planungsprozesse verantwortlich. Delfine besitzen keine so großen Stirnlappen, doch auch sie können Probleme lösen und, so scheint es, auch für die Zukunft planen. Wir Primaten verarbeiten Informationen, die uns die Augen vermitteln, hinten im Gehirn, Sprache und akustische Informationen dagegen in den Schläfenlappen auf der rechten und linken Seite. Delfine hingegen verarbeiten visuelle und akustische Informationen in ganz anderen Teilen ihrer Großhirnrinde, und die Informationen nehmen dort auch ganz andere Wege als beim Menschen. Außerdem haben Delfine ein gut entwickeltes paralimbisches System für die Verarbeitung von Gefühlen.

Doch wieso haben gerade die Delfine ein so großes Gehirn entwickelt? Und zwar schon Millionen Jahre früher als die Ahnen des Menschen? Ein Blick in die Erdgeschichte und auf Fossilfunde kann dazu Hinweise geben. Vor rund 34 Millionen Jahren waren die Vorfahren der heutigen Delfine noch große Tiere mit mächtigen, wolfsartigen Zähnen. Damals hatte eine Periode begonnen, in der, wie man heute annimmt, das Wasser der Ozeane deutlich kälter wurde. Mit dieser Temperaturänderung entstanden neue Nischen für die Delfine, mit neuer Beute. Sie veränderten ihre Jagdgewohnheiten. Aus Veränderungen an den Knochen des Innenohres kann man schließen, dass die Delfine in jener Zeit auch die Echoortung verbesserten. Jedenfalls verwandelten sich manche Arten von einsamen Jägern, die großen Fischen nachstellten, in Gruppen, die Jagd auf Schwärme kleinerer Tiere machten. Damit wurde Kommunikation wichtiger.

Das soziale Leben der Delfine

Der amerikanische Verhaltensforscher Richard Connor untersucht das Sozialleben der Delfine in der australischen Shark Bay. Er hat drei Stufen von Bündnisbildung ausgemacht. Auf der ersten Stufe bilden Männchen Paare oder Trios, die gemeinsam aggressiv um Weibchen werben und diese bei Erfolg anschließend unter strenger Bewachung halten. Die Männchen der Kleingruppen schließen sich wiederum zu größeren Teams von vier bis 14 Tieren zusammen. Das sind die Bündnisse zweiter Ordnung. Sie arbeiten gemeinsam, wenn es darum geht, anderen Gruppen die Weibchen zu stehlen, und sie verteidigen ihre eigenen Weibchen gegen Angriffe von außen. Allerdings können solche Bündnisse auch durchaus flexibel sein. Zwei Delfine eines Teams zweiter Ordnung können an einem Tag Freunde und am nächsten Gegner sein, je nachdem, welche Artgenossen sich in der Nähe herumtreiben. Bei Primaten sind solche Bündnisse in der Regel starrer: „Du bist entweder für oder gegen uns.“ Bei Delfinen kann sich das situationsabhängig ändern, was die Einschätzung der Lage kompliziert macht.

Intelligenz und Gehirngröße: Eine komplexe Beziehung

Intelligenz wird gerne an der Größe des Gehirns fest gemacht. Doch das scheint nicht das einzige Kriterium zu sein. Um die Intelligenz von Delfinen (be)greifbar zu machen, haben Wissenschaftler wie Lori Ann Marino, Lou M. Herman, Denise L. Herzing, Diana Reiss oder Bernd Würsig verschiedene Aspekte untersucht.

Trotz einiger anatomischer Gemeinsamkeiten gibt es auch Unterschiede zwischen dem Delfin- und dem menschlichen Gehirn, die das Vergleichen erschweren. Das Gehirn eines Tümmlers ist um 40 Prozent größer als das des Menschen. Beide Gehirne sind in zwei Hemisphären aufgeteilt, die mit dem Corpus Callosum (Gehirnbalken) verbunden sind. Beim Delfin ist der Gehirnbalken kleiner als beim Gehirn des Menschen, was den Schluss zulässt, dass beide Hemisphären unabhängiger voneinander arbeiten können. Dies zeigt anschaulich der interhemisphärische Schlaf der Delfine. Ähnlich wie beim menschlichen Gehirn ist das Cerebrum (Großhirn) der größte Teil des Delfingehirns. Das Cerebellum (Kleinhirn) des Delfins, gemessen an der jeweiligen Größe, ist um fast die Hälfte größer als beim Menschen. Es ist zuständig für Feinmotorik, Balance, Gedächtnis, Sprache und Sinnesverarbeitung (Wahrnehmen und Erkennen).

Das Delfingehirn hat einen paralimbischen Lappen, der im menschlichen Gehirn fehlt. Dadurch könnten emotionale Informationen eine größere Rolle spielen. Das Verhältnis Gehirngewicht zu Rückenmarksgewicht (50 beim Menschen: 40 beim Tümmler) und der EQ (Verhältnis von Körpergewicht und Gehirngewicht - 7,0: 4,1-4,9 je nach Art des Delphins) sind Parameter, mit denen die Wissenschaftler die Fähigkeiten der Gehirne von Tieren und Menschen anhand einer Formel vergleichen können.

Universelle Kriterien für Intelligenz

Es gibt ein paar universelle Kriterien, auf denen Intelligenz basiert. Ein Gehirn braucht Nervenzellen. Die schnellere Erregungsübermittlung via Nervenzellen hat die Informationsverarbeitung und das Reaktionsvermögen von Tieren um Größenordnungen beschleunigt. Doch erst die Bündelung der Neuronen an einem zentralen Organ, dem Gehirn, ermöglicht komplexe Leistungen. Das auffälligste Kennzeichen eines Gehirns ist seine absolute Größe. Innerhalb einer Tiergruppe garantiert das größte Hirn folglich die höchste Intelligenz.

Offensichtlich entscheidet nicht nur die absolute, sondern auch die relative Größe über die Leistungsfähigkeit eines Gehirns. Unter den meisten Wirbeltieren haben die größeren Arten ein relativ kleineres Gehirn als die kleineren. "Wale sind ein gutes Beispiel dafür, dass ein größeres Gehirn nicht unbedingt mehr Nervenzellen enthalten muss. Entscheidend ist, wie dicht die Neuronen gepackt sind", erklärt Onur Güntürkün. Delfine wie der Große Tümmler haben zwar genauso viel Hirnmasse wie der Mensch, doch enthält diese mit 5,8 Milliarden Nervenzellen wesentlich weniger Neuronen.

Interaktionen zwischen Walen und Delfinen

Olaf Meynecke, Walforscher und Leiter des Whales & Climate Program, sowie Co-Autorin Olivia Crawley haben Fotos und Videos aus sozialen Medien ausgewertet, um Begegnungen zwischen Walen und Delfinen zu analysieren. In etwa einem Viertel der Fälle handelt es sich um eine positive gegenseitige Interaktion - spielerisch oder freundlich. Besonders bei Buckelwalen, die als äußerst soziale Tiere gelten, zeigt sich das in der Körpersprache: Sie rollen sich auf die Seite, präsentieren ihren Bauch oder nähern sich langsam den Delfinen. Delfine suchen häufig die Nähe zum Kopf der Wale. Man vermutet, dass die Delfine in Sichtweite der Wale bleiben, um von ihnen gesehen zu werden. Gleichzeitig genießen die Delfine es von Zeit zu Zeit an der Seite des Wales "mitzureiten".

In Zeiten von Nahrungskonkurrenz können Wale mit Schwanzschlägen signalisieren, dass sie Abstand wünschen. Delfine scheinen besonders dann Interesse zu zeigen, wenn es unter den Walen zu Auseinandersetzungen kommt. Interaktionen mit Delfinen stellen möglicherweise eine Form von sozialem Spiel dar, das Kreativität fördern kann.

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