Die Vorstellung, dass wir nur einen Bruchteil unseres Gehirns nutzen, ist ein weitverbreiteter Mythos. Filme wie "Lucy" befeuern diese Vorstellung zusätzlich, indem sie zeigen, wie eine Person durch eine Substanz ihre mentalen Fähigkeiten enorm steigern kann. Doch was steckt wirklich hinter dieser Behauptung? Nutzen wir tatsächlich nur 10 % unseres Gehirns, während der Rest brachliegt? Die Antwort ist ein klares Nein.
Das Energiesparwunder Gehirn
Entgegen der landläufigen Meinung nutzen wir die volle Kapazität unseres Gehirns, allerdings nicht gleichzeitig. Obwohl das Gehirn nur etwa 2 % unserer Körpermasse ausmacht, verbraucht es rund 20 % unseres Energiebedarfs. Untersuchungen und biochemische Verfahren haben gezeigt, dass es keine inaktiven Bereiche im Gehirn gibt und einzelne Nervenzellen bei gesunden Menschen nicht dauerhaft zur Ruhe kommen.
Die oft gelobten bildgebenden Verfahren wie fMRT und PET zeigen zwar, dass zu jedem Zeitpunkt nur kleine Teile des Gehirns aktiv sind, dies bedeutet jedoch nicht, dass der Rest ungenutzt ist. Vielmehr verdeutlicht dies die effiziente Funktionsweise unseres Gehirns.
Die Funktionsweise unseres Gehirns
Unser Gehirn ist ein wahres Energiesparwunder. Etwa 50 % des Energiebedarfs werden dafür verwendet, die Betriebsbereitschaft des Gehirns zu gewährleisten, indem Ruhepotenziale aufrechterhalten werden. Der Rest der Energie wird für aktive geistige Tätigkeiten benötigt. Dabei aktiviert das Gehirn stets nur die relevanten Bereiche, um Energie zu sparen.
Sind an einer Handlung oder einem Gedanken verschiedene Bereiche beteiligt, so werden diese nacheinander aktiviert. Eine gleichzeitige Aktivierung aller beteiligten Bereiche würde eine größere Menge Energie benötigen, als unser Körper bereitstellen kann. Dies lässt sich mit dem Stromverbrauch einer Stadt vergleichen: Der maximale Stromverbrauch zu einem bestimmten Zeitpunkt ist geringer als der über einen längeren Zeitraum zusammengerechnete Stromverbrauch.
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Evolution und Neuroplastizität
Die Evolution hat dafür gesorgt, dass unser Körper keine überflüssigen Hirnbereiche zurückbildet, da unser Gehirn auch im Ruhezustand viel Energie benötigt. Zudem zeigt die Neuroplastizität, die Fähigkeit unseres Gehirns, seine Funktionalität den Erfordernissen anzupassen, dass unser Gehirn keine starre Masse ist, sondern flexibel auf die Umwelt reagiert.
Beispielsweise übernehmen bei erblindeten Personen die ehemals für die visuelle Verarbeitung verantwortlichen Bereiche neue Funktionen. Auch die Beobachtung, dass Menschen nach Schädigung bestimmter Hirnbereiche oftmals keine offensichtlichen Defizite zeigen, spricht für die Neuroplastizität. Defizite beziehen sich in der Regel auf exekutive und integrative Funktionen, die für eine Vielzahl bedeutender Funktionen verantwortlich sind.
William James und die geistige Trägheit
Der amerikanische Psychologe William James trug ebenfalls zur Verbreitung des Mythos bei, indem er sagte, dass die meisten Menschen nicht ihr volles geistiges Potenzial erreichen. Damit meinte er jedoch lediglich, dass viele Menschen geistig träge sind, nicht dass ein konkreter Anteil des Gehirns ungenutzt bleibt.
Das Gehirn im Faktencheck
- Nutzen wir nur 10 Prozent unseres Gehirns? Falsch! Das Gehirn ist rund um die Uhr aktiv und steuert lebenswichtige Körperfunktionen.
- Sind Kopfschmerzen Gehirnschmerzen? Nein! Bei Kopfschmerzen schmerzen die Blutgefäße der Hirnhaut, nicht das Gehirn selbst.
- Können wir nur begrenzt Informationen speichern? Nein! Unser Langzeitgedächtnis kann unbegrenzt Informationen aufnehmen.
- Erinnerungen trügen nicht? Doch! Erinnerungen werden oft verschönert und bei jedem Abruf variiert.
- Lässt sich unser Gehirn dopen? Nein! Hirndoping-Medikamente wirken bei Gesunden unberechenbar und selten besser als Placebos.
- Kann das Hirn Hunger haben? Ja! Das Gehirn verbraucht 20 Prozent des Energieverbrauchs im menschlichen Körper.
- Helfen Kreuzworträtsel und Sudokus, geistig fit zu bleiben? Kaum! Denkarbeit sollte anstrengen und Routinen sprengen.
- Senkt die richtige Ernährung das Risiko für Demenz? Ja! Eine ausgewogene Ernährung ist enorm wichtig fürs Gehirn.
- Wird die Alzheimer-Demenz vererbt? Keineswegs! Nur etwa ein Prozent aller Alzheimer-Fälle ist eindeutig erblich bedingt.
- Führen Rotwein und Schokolade zu Migräne-Attacken? Nein! Oft entsteht der Heißhunger auf Schokolade erst durch eine ohnehin bevorstehende Attacke.
- Kann Schwindel auch durch psychische Erkrankungen entstehen? Unglaublich, aber wahr! Der phobische Schwankschwindel tritt im Rahmen von Angsterkrankungen auf.
- Epileptische Anfälle treten nur bei sehr wenigen Menschen auf? Mitnichten! Etwa fünf Prozent der Deutschen erleidet mindestens einmal im Leben einen epileptischen Anfall.
- Wie erkenne ich einen Schlaganfall? FAST! Face (Gesicht), Arms (Arme), Speech (Sprache), Time (Zeit).
- Geht es beim Schlaganfall nur um die ersten Minuten? Nicht nur! Je früher, desto besser - auch bei der Frührehabilitation.
- Sind Schwangerschaften bei Multipler Sklerose riskant? Nein, im Gegenteil! Meist beruhigt sich diese Autoimmun-Erkrankung während der Schwangerschaft sogar.
- Benötigen alle MS-Patienten später einen Rollstuhl? Keineswegs! Die Krankheit führt nur bei etwa fünf Prozent der Erkrankten innerhalb weniger Jahre zu einer körperlichen Behinderung.
- Hilft Strom gegen Steifheit und Zittern bei Parkinson? Ja! Die Implantation eines Hirnschrittmachers kann helfen.
- Zittrige Hände gehören zur Parkinson-Krankheit? Nicht unbedingt! Verlangsamte, oftmals wie eingefrorene Bewegungen gehören immer zum Bild des Parkinson-Syndroms.
- Gibt es Landkarten auf dem Gehirn? Tatsächlich! Neurochirurgen erstellen mithilfe des Mappings eine Karte der Gehirnfunktionen.
- Albert Einsteins Gehirn liegt im Museum? Teilweise! Teile von Einsteins Gehirn befinden sich in verschiedenen amerikanischen Museen.
- Geht Corona auch dem Gehirn auf die Nerven? Leider, ja! Das Virus kann das Nervensystem in Mitleidenschaft ziehen.
Wie der Mythos entstand und sich hartnäckig hält
Der Ursprung des Mythos ist unklar, vermutlich handelt es sich um ein Missverständnis wissenschaftlicher Aussagen oder um eine Vereinfachung komplexer Forschungsergebnisse. Scientology-Gründer Ron Hubbard nutzte den Mythos, um das ungenutzte Potenzial menschlichen Denkens und Handelns hervorzuheben und seine "Botschaften" zu untermauern.
Die Vorstellung, dass wir nur einen kleinen Teil unseres Gehirns nutzen, ist verlockend, da sie suggeriert, dass wir unser geistiges Potenzial durch bestimmte Methoden oder Substanzen steigern können. Dies erklärt, warum sich der Mythos so hartnäckig hält und in der Populärkultur und in Motivations- und Selbsthilferatgebern immer wieder auftaucht.
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Das Gehirn trainieren und optimieren
Obwohl wir unser Gehirn immer zu 100 % nutzen, können wir seine Leistungsfähigkeit dennoch steigern. Wie ein Sportler seinen Körper trainieren kann, lässt sich auch das Gehirn trainieren und mit den benötigten Nährstoffen versorgen.
Regelmäßiges Training, wie das Erlernen einer neuen Sprache oder eines Musikinstruments, kann die Gehirnleistung verbessern. Auch die richtige Ernährung mit wichtigen Nährstoffen wie Zink, Magnesium und B-Vitaminen spielt eine wichtige Rolle für den Erhalt einer normalen Hirnfunktion.
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