Wo sitzt die Seele im Gehirn? Wissenschaftliche Erkenntnisse im Überblick

Die Frage nach dem Sitz der Seele im Gehirn beschäftigt die Menschheit seit Jahrtausenden. Philosophen, Theologen und Naturwissenschaftler ringen um Antworten, wobei sich die Perspektiven und Erkenntnisse im Laufe der Zeit stark gewandelt haben. Dieser Artikel beleuchtet den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse und diskutiert die Implikationen für Philosophie und Theologie.

Die Herausforderung des Leib-Seele-Problems

Das Leib-Seele-Problem ist ein klassisches philosophisches Problem, das sich mit der Frage auseinandersetzt, wie geistige Phänomene wie Bewusstsein, Gedanken und Gefühle mit physischen Prozessen im Gehirn zusammenhängen. Traditionell wurden diese Bereiche als getrennt betrachtet, wobei die Seele als etwas Immaterielles und vom Körper Unabhängiges angesehen wurde.

Die Gehirnforschung hat in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht und liefert zunehmend detaillierte Einblicke in die neuronalen Grundlagen geistiger Prozesse. Dies hat zu einer neuen Debatte über das Leib-Seele-Problem geführt, in der einige Wissenschaftler und Philosophen die traditionelle dualistische Sichtweise in Frage stellen und eine naturalistische Position vertreten, die geistige Phänomene als Produkte des Gehirns betrachtet.

Die Rolle der Gehirnforschung

Die Gehirnforschung hat die traditionellen Kompetenzbereiche von Philosophie und Theologie berührt. Francis Crick argumentierte, dass Philosophie und Theologie nach zweitausend Jahren der Beschäftigung mit dem Leib-Seele-Problem jede Glaubwürdigkeit verspielt hätten und nun das Feld zugunsten der Neurophysiologie räumen müssten.

Ermutigt durch die Erfolge von Neurowissenschaft, der Erforschung Künstlicher Intelligenz und empirischer Psychologie stoßen die positiven Wissenschaften in jene Bereiche vor, die bisher der Philosophie und Theologie vorbehalten waren. Das Phänomen des menschlichen Bewusstseins wird als eine der letzten wissenschaftlichen Herausforderungen gesehen. Diese Zielsetzung hat zu einer bisher nicht gekannten interdisziplinären Zusammenarbeit im Bereich der positiven Wissenschaften geführt. Der Begriff „Kognitionswissenschaft“ wird in diesem Zusammenhang häufig als Oberbegriff für verschiedene Disziplinen verwendet, die sich zu einer großen Koalition zusammengeschlossen hätten, um gemeinsam das „Mysterium“ des Bewusstseins und der menschlichen Person zu entschlüsseln.

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Naturalismus und die Sonderstellung des Menschen

Der Naturalismus ist eine philosophische Strömung, die der menschlichen Person und ihren Fähigkeiten die Sonderstellung abspricht und sie wie natürliche Phänomene behandelt. Das heißt wie solche, die den Methoden der positiven wissenschaftlichen Forschung zugänglich sind.

Neuronale Plastizität und die Widerlegung der Identitätstheorie

Die Identitätstheorie, die in den 1950er und 1960er Jahren die Diskussion in der analytischen Philosophie des Geistes beherrschte, besagt, dass jeder geistige Zustand einer bestimmten Art immer identisch mit einem neurophysiologischen Geschehen einer bestimmten Art ist. Die Absicht, morgen Fasan zu essen, wäre demnach in allen Menschen identisch mit der Aktivierung einer bestimmten Art von „C-Fasern“.

Jüngere Untersuchungen an Schlaganfall-Patienten haben jedoch gezeigt, dass bestimmte mentale Fähigkeiten nicht notwendigerweise an ein bestimmtes Areal oder eine bestimmte Population von Nervenzellen gekoppelt sind. Stattdessen spricht man von "neuronaler Plastizität", was bedeutet, dass gesunde Hirnzellen nach einem Schlaganfall allmählich die Funktion geschädigter Bereiche übernehmen können.

Bildgebende Verfahren und die Lokalisierung geistiger Prozesse

Methoden wie PET (Positronen-Emissions-Tomographie) und fMRT (funktionelle Magnetresonanztomographie) haben die Hirnforschung revolutioniert. Sie ermöglichen es, die neuronale Aktivität im Gehirn zu visualisieren und bestimmten geistigen Prozessen zuzuordnen. Eine bestimmte Art geistiger Zustände lässt sich nicht einer genau umschriebenen Gehirnregion zuordnen. Stattdessen kooperieren verschiedene Gehirnregionen miteinander, um parallel verarbeitend verschiedene Funktionen zu erfüllen.

Easy Problems vs. Hard Problems des Bewusstseins

David Chalmers unterscheidet zwischen "easy problems" und "hard problems" des Bewusstseins. Zu den "easy problems" zählen mentale Zustände, die durch Funktionen rekonstruierbar sind, also kausale Schemata, die durch neuronale Mechanismen realisiert werden. Zu den "hard problems" gehören Bewusstseinsphänomene, deren wesentlicher Gehalt nicht-relational ist und deshalb funktional nicht rekonstruierbar scheint. Dazu zählt vor allem das subjektive Erleben, die "Qualia".

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Das menschliche Selbst und die Rolle der Körperrepräsentation

Die Annahme einer lokalisierbaren Zentralinstanz im Gehirn, die als neuronales Korrelat des menschlichen Selbst angesehen werden könnte, ist widerlegt. Neuere Erkenntnisse deuten darauf hin, dass die somatosensorische bzw. somatomotorische Darstellung des Körpers im Gehirn eine entscheidende Rolle für die Entstehung des Selbst und des subjektiven Erlebens spielt. Die permanente Aktivierung einer Körperrepräsentation im Gehirn scheint einen wesentlichen Beitrag für das Entstehen des Phänomens der Subjektivität - des Gefühls, dass sämtliche Erlebnisse meine Erlebnisse sind - zu liefern.

Die Seele im Spiegel der Neurowissenschaften

Gerhard Roth betont, dass die Seele nicht direkt auf einem Hirnscan sichtbar ist. Allerdings lassen sich durch EEG-Messungen feststellen, ob eine bewusste Wahrnehmung vorliegt oder nicht. Daneben lassen sich neurochemische und elektrophysiologische Prozesse nachweisen, deren Zusammenspiel das bedingt, was unter „Seele“, „Psyche“, „Geist“ verstanden wird.

Nicole Strüber ergänzt, dass Gene und Umwelteinflüsse die Hirnchemie prägen und sich epigenetische Veränderungen sogar auf die nächste Generation vererben können. Roth betont jedoch, dass ungünstige Erbanlagen durch Fürsorge und Zuwendung in den ersten Lebensjahren wieder wettgemacht werden können und dass dem Geist eine "Teilautonomie" zugesprochen werden muss.

Teilautonomie des Geistes

Das Gehirn produziert eine psychische Welt. Darin gibt es Zustände wie das Ich-Gefühl oder die gezielte Aufmerksamkeit. Diese teilautonomen Zustände wiederum wirken auf die naturgesetzlich bestimmten Abläufe im Gehirn zurück. Wenn wir uns stark konzentrieren oder meditieren, verändert sich auch etwas in unserem neuronalen Netzwerk.

Neurowissenschaftliche Erkenntnisse und ihre Anwendung

Neurowissenschaftliche Erkenntnisse können in verschiedenen Bereichen angewendet werden, beispielsweise vor Gericht, um die Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen zu beurteilen oder psychische Erkrankungen besser zu verstehen und zu behandeln. Gerhard Roth und Nicole Strüber betonen, dass die Neurobiologie die Möglichkeit bietet, psychische Krankheiten außerhalb des Gerichtssaals zu betrachten. Therapeutische Hauptströmungen etwa werden noch immer vom Dogma beherrscht, das Denken bestimme das Fühlen. Folgt man neurobiologischen Erkenntnissen, ist das Gegenteil der Fall. Trotzdem baut Kognitive Verhaltenstherapie noch immer darauf, Patienten durch (Selbst-)Erkenntnis zu heilen.

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Hirntumoren und die Angst vor Persönlichkeitsveränderungen

Patienten mit Hirntumoren haben oft Angst vor Persönlichkeitsveränderungen, da das Gehirn als Sitz der Seele gilt. Tatsächlich sind solche Veränderungen jedoch selten. Die Behandlung von Hirntumoren hängt von der Art des Tumors ab. Glioblastome sind besonders gefährlich, da sie diffus in das Gehirn einwachsen und gegen Therapien resistent sind. Die grossen Fortschritte in der molekularen Tumordiagnostik ermöglichen es, Patienten molekular definierten Subgruppen zuzuordnen, die viel besser zu behandeln sind.

Bewusstsein als Forschungsgegenstand

Melanie Wilke und Michael Pauen betonen, dass Bewusstsein inzwischen ein etablierter Gegenstand der empirischen Forschung ist. Sie beantworten die Frage, ob Hirnaktivität Bewusstsein hervor bringt unterschiedlich. Pauen sagt, dass sie es nicht hervor bringt, sondern bestimmte neuronale Aktivitätsmuster mit bestimmten Bewusstseinszuständen identisch sind. Wilke sagt, dass Bewusstseinszustände und -inhalte mit messbaren Mustern der Hirnaktivität korrelieren, auf mehr würde sie sich nicht festlegen.

Pauen glaubt, dass es eines Tages Maschinen mit Bewusstsein geben wird, aber diese Maschinen werden nur sehr wenig mit denen zu tun haben, die wir heute kennen. Wilke hält es nicht für ausgeschlossen, dass es bewusste Maschinen geben wird. Allerdings wissen wir bislang noch gar nicht, was die physikalische Grundlage von Bewusstsein ist.

Neuronale Korrelate des Bewusstseins (NCC)

Seit den 1990er Jahren suchen Forscher nach den neuronalen Korrelaten des Bewusstseins (NCC). Solche Korrelate sind immer eingebettet in Modellannahmen. Was derzeit noch fehlt, ist eine Art Atommodell für Bewusstsein.

Die Bedeutung der Differenzierung

Wilke und Pauen betonen die Bedeutung der Differenzierung bei der Erforschung des Bewusstseins. Es gibt einen Unterschied zwischen dem Auskunftgeben und dem bewussten Erleben selbst. Auch Pauen sagt, dass das Wissen über eine Erfahrung etwas anderes als die Erfahrung selbst ist, nur leider setzen wir beides intuitiv gleich. Die Differenzierung ist ein entscheidender Fortschritt, wir schärfen unsere begrifflichen Werkzeuge, um Bewusstsein erfassen und untersuchen zu können.

Die Seele im Wandel der Zeit

Die Frage nach der Seele beschäftigt die Menschen seit Jahrtausenden. Im griechischen Denken war die Seele zunächst das Lebensprinzip, wurde aber später auf das Kognitive und Emotionale ausgeweitet. In der Antike gab es konkurrierende Konzepte über den Sitz der Seele: entweder in der Herzgegend oder im Gehirn.

Cornelius v.d. Eijk betont, dass die Unsterblichkeit der Seele eine zutiefst unchristliche Vorstellung ist, da die Seele der Atem ist, den Gott dem Menschen einhaucht. Die Auferweckung der Toten durch Gott ist der Kernpunkt christlichen Glaubens.

Seele und Individualität

Oft wird die Seele als das verstanden, was den Menschen zu einem Individuum macht. Im antiken Denken ist die Seele nicht dasjenige, was unsere persönliche Identität ausmacht, sondern eher eine unpersönliche und allgemeine Lebenskraft.

Seele in der modernen Medizin

In der modernen Medizin tauchen Begriffe wie "Work-Life-Balance" oder "Wellness" auf, wenn von der Einheit von Seele und Körper die Rede ist. Sigmund Freud sprach von Psyche, aber ausdrücklich auch von Seele und wollte die Funktionsweise der Seele mit naturwissenschaftlichen Kategorien beschreiben.

Herausforderungen und Perspektiven

Die Suche nach dem Sitz der Seele im Gehirn ist eine komplexe und herausfordernde Aufgabe. Die Gehirnforschung hat zwar enorme Fortschritte gemacht, aber viele Fragen sind noch offen. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Naturwissenschaften, Philosophie und Theologie ist entscheidend, um ein umfassendes Verständnis des menschlichen Bewusstseins und der menschlichen Seele zu entwickeln.

Es gilt, die neurobiologischen Grundlagen des "Seelischen" zu bestimmen und zugleich die Fallstricke eines Reduktionismus wie die eines Dualismus zu vermeiden. Dies wird uns gelingen, wenn wir zeigen können, in welcher Weise im Gehirn Gene und Umwelt miteinander interagieren, vor allem wie vorgeburtliche und nachgeburtliche Erfahrungen auf die Genexpression einwirken, die ihrerseits die synaptische Verschaltung steuert.

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