Ein Knopfdruck - und alle Lichter gehen aus. Diese Vorstellung, ein Albtraum für die moderne Gesellschaft und ein Traum für Hacker, ist ein beliebtes Thema in Filmen und Serien. Die Netflix-Serie »Zero Day« versucht, diesem Thema in sechs Folgen neue Aspekte abzugewinnen. Nach einem Cyberangriff nie gekannten Ausmaßes bricht in den USA die komplette Infrastruktur zusammen. Die eigentliche Katastrophe setzt die Serie allerdings nur mit wenigen Schockszenarien ins Bild. Die Fragestellung ist spannend, aber dennoch kommt die Serie nie so richtig in Schwung.
Die Handlung: Ein Cyberangriff erschüttert die USA
In »Zero Day« wird in sechs Folgen erzählt, wie die USA an den Rand des Chaos gebracht, einmal durchgemischt und dann neu aufgesetzt werden. Nach einer Cyberattacke befinden sich die Vereinigten Staaten von Amerika im Chaos: Für 60 Sekunden fielen Handys, Verkehrsleitsysteme und Server aus. Die Folge: mehr als 3000 Tote. Obendrein wird quasi allen Bewohner:innen des Landes die gleiche Nachricht auf dem Handy angezeigt: “Es kann jederzeit wieder passieren.”
Die Gesellschaft braucht einen Mann, der Vertrauen schafft, Ängste nimmt und die Schuldigen zur Strecke bringt. Mit Verweis auf die 9/11-Kommission spielt »Zero Day« das Szenario eines Ermittlungsausschusses durch, der den Cyberangriff auf die freie Welt rasch aufklären soll. Den Vorsitz übernimmt der von Robert De Niro verkörperte, angesehene Ex-Präsident George Mullen, der als Chef der Kommission »mit der größten Machtfülle in der Geschichte« Amerikas ausgestattet wird. In seinem Auftrag können Staatsbeamte ohne Haftbefehl Türen eintreten, um Verdächtige zu verhaften und sogar zu foltern.
Mittendrin ist der frühere US-Präsident George Mullen (Robert De Niro), der ziemlich beliebt bei einem Teil der Bevölkerung und verhasst bei anderen war und aus seinem Ruhestand zurückkommt: Er soll, so möchte es die amtierende US-Präsidentin Evelyn Mitchell (Angela Basset), eine Sonderkommission inklusive Sonderrechten leiten und die Täter hinter dem Angriff finden. Problem: Niemand bekennt sich bisher zu den Anschlägen. Außerdem werden die Sonderrechte, die nicht immer im Einklang mit der Genfer Menschenrechtskonvention stehen, stark von anderen US-Politiker:innen angezweifelt. Als eine Server-Farm in New York entdeckt und ein erster möglicher Täter entdeckt wird, nimmt Mullen seine Befragung auf (und das vielleicht so, wie es nur Robert “Are you lookin’ at me?” De Niro umsetzen kann).
Womit nicht einmal George Mullen am Anfang von “Zero Day” rechnet: dass eine Verschwörung die kompletten USA untergraben hat, er fast niemandem, nicht einmal sich selbst, bedingungslos trauen kann und er am Schluss entscheiden muss, was richtig und was falsch ist.
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Die Hintergründe des Anschlags
In der vorletzten Folge von “Zero Day” fällt dem Publikum ziemlich sicher die Kinnlade herunter, denn dann wird offenbart, wer wirklich hinter dem Terroranschlag steckt, der über 3000 Menschenleben forderte und das ganze Land in Angst und Schrecken versetzte. Richtig Fahrt nimmt das Ganze noch mal auf, wenn George Mullen entdeckt, dass das Weiße Haus direkt in den Anschlag verstrickt ist.
Dass Alex Mullen hinter dem Terrorakt steckt, erfährt ihr eigener Vater, der ja die Investigation leitet, erst in Folge 6, den Zuschauer:innen wird dieses Geheimnis bereits in Folge 5 preisgegeben, als sie mit ihrem Funkgerät Dreyer anruft, um ein Meeting zu vereinbaren. Whaaaaat?!
Dass Mitarbeiter:innen der Regierung den Anschlag verübt haben, ist komplett irre: Wieso? Wieso verübt man eine Attacke, bei der es Tausende Tote gibt und das ganze eigene Land ins Chaos gestürzt wird? Das erklären Repräsentantenhaus-Sprecher Dreyer und Alex Mullen in der letzten Folge der Mini-Serie folgendermaßen: Der Grund für den Cyberangriff wäre gewesen, die ganze Nation hinter einer gemeinsamen Sache einen zu wollen.
Die Strippenzieher:innen hinter dem Angriff wollten aktiv gegen die Spaltung der Bevölkerung der USA und den Stillstand in der Politik vorgehen. Um die Nation zu retten, haben sie also einen Anschlag geplant. Ähm, wie bitte? “Sie waren nicht auf Geld oder Rache aus; sie wollten die Welt verbessern”, erklärt Co-Showrunner Eric Newman dieses Himmelfahrtskommando. “Viele der schlimmsten Unternehmungen in der Geschichte der Menschheit beginnen auf diese Weise”, fügte er im Gespräch mit dem Netflix-Portal Tudum hinzu. Das ist wohl wahr, aber trotzdem: Was für ein Plot Twist!
Das Ende: Wahrheit oder Schutz der Nation?
In der finalen Folge deckt Ex-Präsident und Chef-Ermittler George Mullen das Komplott auf - und damit auch die Beteiligung ranghoher Politiker:innen und vor allem seiner eigenen Tochter Alex. Wie also erklärt er seinen Mitbürger:innen, was da wirklich passiert ist? Kehrt er die Beteiligung seiner Tochter unter den Teppich, um den lieben Frieden zu wahren und auch seine Familie zu schützen? Oder ist Mullen doch der integre Präsident, für den ihn in “Zero Day” viele halten?
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George Mullen tritt am Schluss von “Zero Day” ans Rednerpult. Eigentlich will er die krasse Verschwörung abmildern, um die Nation und die Glaubwürdigkeit der Politiker:innen zu schützen. Aber er überlegt es sich spontan anders, pfeift auf den Text auf dem Teleprompter und packt aus: Er liest das Geständnis seiner Tochter vor und offenbart der Welt so, dass Alex und ranghohe Mitarbeiter:innen im Weißen Haus in den “Zero Day” verwickelt, ja ihn sogar geplant haben. Er nennt alle Verschwörer:innen beim Namen, woraufhin lautstark protestiert wird.
Und George Mullen? Verlässt das Rednerpult und weiß, dass er das Richtige getan hat. Guter Mann, der Robert De Niro als fiktiver Ex-Präsident der USA. Ob die Serie jedoch ein gutes Ende hat, lässt sich nicht so einfach sagen - das müsse jede:r für sich entscheiden, meint auch Co-Showrunner Newman.
Mullens Halluzinationen: Demenz oder Cyberwaffe?
Bereits in der ersten Folge leidet George Mullen an Halluzinationen. Als Zuschauer:in vermutet man einen Anfall von Demenz, weil er sich an Leute nicht erinnern kann und unzählige Male “Who killed Bambi?” in sein Notizbuch geschrieben hat.
Dass Mullen nicht dement ist, kommt erst im Lauf der Mini-Serie ans Licht. Die Cyberwaffe “Proteus” könnte an seiner Verwirrung und den Halluzinationen schuld sein: Entwickelt wurde “Proteus” von der US-eigenen National Security Agency, einem Inlandsgeheimdienst. In Folge 4 erklärt Wissenschaftler Dave McKenna (Joseph Adams) in “Zero Day”, was die Cyberwaffe alles kann: Sie “löst traumatische Verletzungen im Gehirn aus - aus der Ferne, aber mit chirurgischer Präzision und absolut nicht nachverfolgbar”.
Für den “Zero Day” wurde die Waffe modifiziert und per Update an die Nutzer:innen von Milliardärin Kidders App verschickt - einer App, die 80 Prozent der US-Bevölkerung in der Serie nutzten. Aber wie kommt “Proteus” vom Smartphone in Mullens Kopf? Es geht los in Folge 1, als der Ex-Präsident beim Joggen auf ein Geräusch aufmerksam wird. Dann sieht er seine Lektorin, die allerdings beim “Zero Day” ums Leben kam, erinnert sich nicht an den Namen seiner Angestellten und so weiter. Hat die Malware etwa etwas mit Mullens Halluzinationen zu tun? “Als wir die Serie schrieben, waren wir der Meinung, dass ‘Proteus’ auf Mullen angewendet wurde. Jetzt, wo ich die Sendung gesehen habe, bin ich mir da nicht mehr so sicher”, erklärt Eric Newman gegenüber Tudum. Ihm käme es fast so vor, als hätten die Halluzinationen und “Proteus” ein ganz eigenes Leben innerhalb der Serie entwickelt.
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Besetzung und Produktion
Die Besetzung von “Zero Day” ist hochkarätig: Robert De Niro, Angela Bassett, Lizzy Caplan, Matthew Modine, Jesse Plemons und Connie Britton sind in den Hauptrollen zu sehen. Dieses Prestige-TV ist eine der neuen Säulen für Netflix, und “Zero Day” ist quasi der Startschuss für diese Luxus-Serien.
Realismus durch Expertenberatung
Einen Extra-Schuss Realität bekam die Serie von Eric Schultz verpasst, seines Zeichens Ex-Berater des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Barack Obama. Er war mehrere Wochen am Set von „Zero Day“ und sollte sicherstellen, dass die Szenen in Washington D.C., im Oval Office und im Besprechungsraum des Weißen Hauses auch wirklich das widerspiegeln, was im Falle einer tatsächlichen Terrorattacke oder sonstigen Krise geschehen würde.
Auch Eric Schultz ist voll des Lobes für "Zero Day"Schultz war von seiner Arbeit am Set von „Zero Day“ sichtlich angetan - und lobte in einem Interview mit Page Six die Verantwortlichen für ihr Bemühen, die Spannung nicht künstlich durch eine reißerische Inszenierung anzukurbeln: „Die Arbeit an diesem Serie war absolut aufregend, und das nicht nur, weil die Themen im Moment sehr aktuell sind. […] Alle Beteiligten - die Autoren, Produzenten, die Crew, der Regisseur, die Schauspieler - waren absolut brillant und haben sich sehr darum bemüht, die Details richtig hinzubekommen. Die Serie ist erschreckend, weil sie sich so real anfühlt.“
Kritik und Einordnung
Die dahinplätschernde Geschichte gibt vor, sich an einem politisch brisanten Thema abzuarbeiten, fühlt sich aber eher wie eine Seifenoper an. So werden zunächst die Russen verdächtigt, später kommt dann eine fanatische Techmilliardärin ins Visier, die Mullen via Livestream hysterisch als »Faschisten« bezeichnet. Ja, die Dialoge dieses Politthrillers, die der »New York Times«-Korrespondent Michael Schmidt zusammen mit Noah Oppenheim verfasste, klingen zuweilen nach Papier. Involviert sind zahlreiche Figuren, von denen jedoch kaum eine ein glaubhaftes Innenleben hat. Oft genug fungieren sie nur als Stichwortgeber für einen unübersichtlichen Plot. Umgeben ist der Vorsitzende des Ermittlungsausschusses von zahlreichen »starken« Frauen. Sogar das Amt des Präsidenten nimmt eine Afroamerikanerin ein. In dieser Rolle vermag Angela Bassett ebenso wenig Akzente zu setzen wie die übrigen Darsteller. In der Kernszene erklärt ein Verschwörer, die Hälfte des Landes läge in einem Fiebertraum aus Lüge und Verschwörung, während die andere Hälfte »sich über Pronomen ereifert«. Von dieser Situation, die auf die gegenwärtige Stimmung in den USA anspielt, ist in der Serie leider kaum etwas zu spüren. Die politischen Lager werden nie beim Namen genannt.
Über das Ende einer Gattung
Wie sich Disruption eigentlich anfühlt, so von innen, sieht wahrscheinlich ungefähr so aus: Ein Mann irrt durch sein Arbeitszimmer. Es ist dunkel, sein Blick flackert an den Wänden herum, Licht von draußen flackert an den Wänden herum, an Regalen voller Notizbücher vorbei, jemand hämmert an die Tür. Der Mann sieht ein bisschen aus wie Robert De Niro in Martin Scorseses Biopic über sich selbst, das es noch gar nicht gibt. Er schraubt an einem Safe herum, Bilder fallen zu Boden, die Verzweiflung wächst. Dann wird es dunkel auf dem Bildschirm. Und „Zero Day“, die erste Serie, in der Robert De Niro eine Hauptrolle übernahm, springt drei Tage zurück. Zur Stunde Null eines sechsteiligen Polit-Thrillers, den man mit einigem Recht als Grabstein für ein ganzes Genre betrachten kann.
„Zero Day“ ist der routiniert ein letztes Mal durchexerzierte feuchte linksliberale Alptraum vom Endkampf der Demokratie gegen seine disruptiven Feinde. Nach allem, was gegenwärtig in Washington geschieht, sind Old-School-Thriller, wie „Zero Day“ einer ist, der natürlich lange vor Donald Trumps zweiter Präsidentschaft und deutlich in der Hoffnung entworfen wurde, dass es so schlimm schon nicht kommen würde, völlig unmöglich geworden. Die Gegenwart hat sie überholt, verschluckt. Und wird sie nicht ausspucken, sondern einfach verdauen.
Robert De Niro ist George Mullen. Der war mal Präsident. Der letzte, so heißt es, der einen Konsens herstellen konnte zwischen den politischen Lagern, die in „Zero Day“ nie beim Namen genannt werden. Auf eine zweite Amtszeit hat er verzichtet. Keiner weiß, warum. Das ist einer der dunklen Erzählpfade im Geschichtenlabyrinth von „Zero Day“. Jetzt bereitet er seine Memoiren vor. Schläft allein in einem Kingsize-Bett, erwacht in über Nacht gebügelten Pyjamas, nimmt seine Pillen, schwimmt im Pool, joggt mit dem Golden Retriever und bekommt ein schwer cholesterinhaltiges Frühstück serviert von einem Diener, der ihn „Mr. President“ nennt. Mullens Washington ist eins, wie es sich Hollywood seit Jahrzehnten in Dutzenden White-House-Apokalypsen immer wieder gern vorgestellt hat. Verkommen, aber rettbar, verwundbar durch Attentäter aller Art, aber wert, dass es nicht zugrunde geht. Daran, an dieser linksliberalen Utopie, ändert sich auch, das darf man spoilern, bis zum Schluss des „Zero Day“ nichts. Weswegen man in der letzten Stunde an der Seite von George Mullen unbedingt die Taschentücherbox bereitstellen sollte, es kommen einem wirklich die Tränen.
Es wäre auch in zwei Stunden gegangenDamit hinterher keiner sagen kann, dass Roland Emmerich oder Alex Garland das Ganze mit mehr cineastischer Wucht (Emmerich) und mehr gesellschaftlich-politischer Tiefe (Garland) in gut zwei Stunden hätten erzählen können (was durchaus zu schaffen gewesen wäre), wird Mullen von gefühlt einem Dutzend hochkarätig besetzter Plotseitenstrangpersonifizierer umgeben - Angela Bassett ist die schwarze Präsidentin, Matthew Modine der klandestine Speaker des Repräsentantenhauses, es gibt eine machtgierige Tech-Milliardärin, einen skrupellosen Late-Night-Moderator und dann ist da auch noch Mullens Tochter, die eine ganz besonders windungsreiche Rolle spielt. Und er wird in all jene Intrigenwinkel gejagt, von denen Linksliberale noch vor der Amtsübernahme von Donald Trump alpträumten. Wer will, findet für jede Figur von „Zero Day“ eine Spiegelung in der wirklichen Wirklichkeit. Nur sind die halt allesamt deutlich dämonischer, als es ihre Widerparts in „Zero Day“ je werden.
Noch vor einem dreiviertel Jahr - das kann man Netflix kaum zum Vorwurf machen -, wäre Mullens Stresstest dessen, was eine Demokratie zu ihrer Verteidigung aushält, aktuell und sinnvoll gewesen. Und waren Sätze wie: „Extremismus ist ein Krebs im politischen System“, oder: „Ich sorge mich darum, ob die Verfassung noch intakt ist“ vielleicht nicht sonderlich einfallsreich, aber gerade noch fast so visionär wie Mullens mehr nach demokratischem Pilates als nach Pilatus klingender, apodiktisch gegen die Lüge als politisches Kerninstrument gewandter Satz: „Die Wahrheit ist die Wahrheit.“ Jetzt ist alles anders. „Zero Day“ ist die erste neue Serie der Welt von gestern. Und wir sind schon sehr gespannt, wie die Serie von heute aussieht, die Serie über die Demokratie nach der Disruption. Flackernd im moralischen, im politischen Niemandsland. In vielleicht zwei Jahren. Wenn es da das linksliberale Hollywood überhaupt noch gibt.