Die alkoholische Polyneuropathie, auch alkoholbedingte Neuropathie genannt, ist eine Erkrankung des Nervensystems, die durch chronischen Alkoholmissbrauch entsteht. Sie gehört zu den peripheren Neuropathien und manifestiert sich durch sensorische Defizite, allgemeine Schwächezustände und diffuse Schmerzen. Häufig tritt sie bei Alkoholabhängigen zusammen mit anderen Folgeerkrankungen auf.
Symptome der alkoholischen Neuropathie
Das Fortschreiten der alkoholischen Neuropathie erfolgt meist langsam und beginnt oft mit Störungen der Nerven in den Beinen. Sind beide Beine betroffen, spricht man von einer symmetrischen Polyneuropathie. Die Störungen äußern sich in Form von:
- Missempfindungen
- Brennenden Schmerzen
- Veränderungen der Sensibilität
- Paresen (Erschlaffung der Muskulatur)
- Muskelschwund
In schweren Fällen kann ein richtiges Stehen nicht mehr möglich sein. Auch die Augen und die umliegenden Bereiche können betroffen sein, was sich in Störungen der Pupillenfunktion oder einer Lähmung der Augenmuskeln äußert.
Verlauf und Diagnose
Bei der alkoholischen Neuropathie können bereits unschädliche Reize Schmerzen verursachen, und Schmerzreize werden verstärkt wahrgenommen. Die Beschwerden beginnen meist in den äußeren Gliedmaßen und breiten sich mit dem Fortschreiten der Krankheit in rumpfnahe Bereiche aus. In späteren Stadien können Schwächezustände zu Gehstörungen und Stürzen führen.
Die Diagnose basiert auf der Feststellung des Alkoholismus und der Symptomatik. Eine Polyneuropathie bezeichnet eine Schädigung des peripheren Nervensystems, die sich durch Schmerzen, Empfindungsstörungen, Fehlempfindungen und Lähmungen bemerkbar machen kann. Sie kann die Lebensqualität der Betroffenen erheblich beeinträchtigen.
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Was ist eine Polyneuropathie?
Polyneuropathien sind neuropathische Schmerzerkrankungen, bei denen mehrere Neuronen oder Nervenfasern verletzt und in ihrer Funktion gestört sind. Die geschädigten peripheren Nerven können Impulse zwischen Gehirn und Rückenmark nur noch eingeschränkt weiterleiten.
Das periphere Nervensystem umfasst alle Nerven außerhalb des Gehirns und des Rückenmarks und ist für zahlreiche körperliche Prozesse wie die Empfindung von Reizen und die Bewegung von Muskeln verantwortlich. Auch das vegetative Körpersystem, das die Verdauung, Atmung und weitere lebenswichtige Körperfunktionen koordiniert, gehört dazu.
Polyneuropathien werden in verschiedene Kategorien unterteilt, beispielsweise nach Innervationsgebiet, Nervenfasertyp oder Entstehungsursache. Hauptformen sind sensomotorische Polyneuropathien, bei denen Schmerzen sowie Empfindungs- und Bewegungsstörungen auftreten.
Ursachen und Risikofaktoren
Die moderne Medizin kennt mehr als 200 verschiedene Risikofaktoren, die das Entstehen von Polyneuropathien begünstigen können. Als Hauptursachen gelten Diabetes mellitus Typ 2 sowie chronischer Alkoholismus. Seltener sind Autoimmunerkrankungen, Entzündungen oder genetische Ursachen. Das Alter, in dem eine Polyneuropathie erstmals auftritt, hängt von der Ursache ab. Bei Kindern tritt sie meist in Zusammenhang mit einer Infektionskrankheit oder aufgrund genetischer Prädisposition auf.
Wenn die Nervenschäden infolge der Einnahme exogener Substanzen entstehen, spricht man von einer toxischen Polyneuropathie. Der übermäßige Konsum von Alkohol gilt als häufigste toxische Ursache. Schätzungen zufolge betrifft die alkoholische Polyneuropathie in Deutschland mindestens ein Fünftel aller Alkoholiker. Männer sind häufiger betroffen als Frauen. Die meisten Betroffenen konsumieren über mehrere Jahre hinweg mehr als 60 g Ethanol täglich, bevor sie erkranken.
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Ursache für eine alkoholische Polyneuropathie ist in erster Linie die toxische Wirkung des Alkohols und seiner Abbauprodukte. Alkohol ist eine neurotoxische Substanz, die eine exotoxische Schädigung im Nervensystem hervorrufen kann. Daneben kann eine Unter- oder Mangelernährung, die in vielen Fällen mit einer chronischen Alkoholsucht einhergeht, das Entstehen der Erkrankung begünstigen.
Neben Alkohol gibt es zahlreiche weitere exogene Substanzen, die Schäden des peripheren Nervensystems nach sich ziehen können, darunter Medikamente und Umweltgifte wie Quecksilber, Blei, Arsen, Lösungsmittel und Schwefelkohlenstoff. Bestimmte Berufsgruppen sind daher besonders gefährdet, an einer toxischen Polyneuropathie zu erkranken.
Symptome im Detail
Wann die Symptome auftreten, welche Nerven betroffen sind und wie stark die Beschwerden ausgeprägt sind, variiert von Patient zu Patient. Der Krankheitsverlauf lässt sich in den meisten Fällen nicht voraussagen. In den meisten Fällen entstehen die Symptome schleichend und steigern sich langsam über einen Zeitraum von mehreren Monaten oder Jahren. In seltenen Fällen zeigen sich die Beschwerden dagegen schlagartig oder entstehen innerhalb einiger weniger Wochen.
Ein typisches Frühsymptom ist Druckschmerzhaftigkeit der großen Nervenstämme, beispielsweise in der Kniekehle oder in der Wade. Daneben kann sich eine alkoholbedingte Polyneuropathie durch zahlreiche weitere Symptome äußern. In den meisten Fällen treten zunächst Störungen in den Füßen, Händen und Beinen auf, die Bewegungsabläufe, die körperliche Kraft und die Sensibilität des Körpers beeinträchtigen können.
Weitere häufige Symptome sind:
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- Ziehende oder drückende Spontanschmerzen in verschiedenen Körperteilen
- Parästhesien (krankhafte Empfindungen ohne erkennbare Ursache)
- Sensibilitätsstörungen (verminderte oder ausbleibende Wahrnehmung von Sinnesreizen)
- Reflexverlust
- Schwächung oder Abbau der Muskelzellen
- Teilausfall einzelner Muskeln, Muskelgruppen oder ganzer Extremitäten
Wenn das vegetative Nervensystem betroffen ist, können Impotenz, Verdauungsbeschwerden und Herzrhythmusstörungen die Folge sein. In einigen Fällen kommt es zudem zu Schädigungen der Hirnnerven.
Welche Symptome eine alkoholbedingte Polyneuropathie hervorruft, hängt von den individuell geschädigten Nerven ab.
Motorische Nerven
Motorische Nerven sind für die Übertragung von Signalen vom Gehirn zu den Skelettmuskeln verantwortlich. Im Falle einer Schädigung verlieren die Muskeln mit der Zeit an Kraft, und es kommt zu einer Degeneration des Gewebes. Dies kann zu Muskelkrämpfen, Muskellähmungen und Muskelschwund führen.
Sensorische Nerven
Sensorische Nerven sind für die Weiterleitung von Berührungsreizen, Vibrationen sowie Schmerz-, Druck- und Temperaturempfinden verantwortlich. Im Falle einer Störung kann es zu Missempfindungen wie Brennen, Kribbeln oder dem sogenannten „Ameisenlaufen“ kommen. Daneben können Taubheitsgefühle oder stechende Schmerzempfindungen auftreten.
Bei einer Polyneuropathie durch Alkohol sind meist zunächst die Zehen, kurze Zeit später auch die Beine betroffen. In Folge können Koordinationsprobleme beim Gehen entstehen.
Autonome Nerven
Autonome Nerven steuern die inneren Organe wie Herz, Magen-Darm-Trakt, Geschlechtsorgane und Lungen. Im Falle einer Schädigung kann es zu Funktionsstörungen dieser Organe kommen.
Diagnose
Um schwerwiegende, dauerhafte Nervenschäden zu vermeiden, sollte eine alkoholische Polyneuropathie schnellstmöglich erkannt und behandelt werden. Die Diagnose erfolgt meist in mehreren Schritten:
- Arzt-Patient-Gespräch (Anamnese): Erhebung der Krankengeschichte des Betroffenen, einschließlich Angaben zum Alkohol- und Drogenkonsum. Eine ehrliche Antwort ist hierbei entscheidend.
- Neurologische Untersuchung: Überprüfung der Nervenfunktion und Feststellung von Sensibilitätsstörungen, Reflexverlust oder Muskelschwäche.
- Elektrophysiologische Untersuchungen: Messung der Nervenleitgeschwindigkeit und der Reizantwortstärke der betroffenen Nerven.
- Laboruntersuchungen: Analyse von Blutwerten, um andere Ursachen auszuschließen und Entzündungswerte, Vitamin-B12-Mangel oder auffällige Leber- und Nierenwerte festzustellen.
Bestimmte Fehlbildungen des Skeletts sowie Fehlstellungen des Fußes können auf eine vorliegende Erkrankung mit erblichem Hintergrund hindeuten. Bei Vorliegen einer Polyneuropathie durch Alkohol wird dagegen meist eine herabgesetzte Nervenleitgeschwindigkeit, eine gestörte Nervenfunktion oder eine Beeinträchtigung der Empfindlichkeit der Nerven festgestellt.
Obwohl Polyneuropathien die Lebenserwartung in der Regel nicht negativ beeinflussen, können die ihr zugrundeliegenden Ursachen wie Alkoholmissbrauch zu einer verkürzten Lebensdauer beitragen.
Behandlung
Eine alkoholische Polyneuropathie wird in den meisten Fällen erst in einem fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert. In einigen Fällen bestehen zum Zeitpunkt der Diagnose bereits irreversible Nervenschäden, die nicht mehr vollständig geheilt werden können. Eine geeignete Therapie kann in vielen Fällen dennoch zu einer Linderung der bereits bestehenden Symptome beitragen und die Entstehung weiterer Schäden verhindern.
Die Therapie richtet sich dabei in erster Linie nach der Ursache der Erkrankung. Wenn eine Begleiterkrankung wie Diabetes vorliegt, ist es beispielsweise entscheidend, die Blutzuckereinstellung zu optimieren.
Weitere Behandlungsansätze sind:
- Alkoholabstinenz: Der wichtigste Schritt zur Behandlung der alkoholischen Polyneuropathie ist der vollständige Verzicht auf Alkohol. Wenn die Erkrankung noch nicht allzu weit fortgeschritten ist, bilden sich die Symptome bei Alkoholabstinenz in vielen Fällen zurück. Da es Suchtkranken sehr schwer fällt, aus eigenem Willen auf alkoholische Getränke zu verzichten, ist in vielen Fällen professionelle Unterstützung erforderlich.
- Ernährungsumstellung und Nahrungsergänzungsmittel: Da eine alkoholische Polyneuropathie in vielen Fällen mit einem Nährstoffmangel einhergeht, sollten zu niedrige Nährstoffspiegel durch die Einnahme geeigneter Nahrungsergänzungsmittel, insbesondere von B-Vitaminen, schnellstmöglich ausgeglichen werden. Daneben ist eine dauerhafte Ernährungsumstellung notwendig.
- Physikalische Therapien: Wärme- und Kältebehandlungen, Physiotherapie, Krankengymnastik oder Reizstromtherapie können zur Behandlung der Beschwerden angewandt werden.
- Medikamentöse Therapie: Zur Behandlung von Schmerzen und Missempfindungen können verschiedene Medikamente eingesetzt werden.
Stationärer Entzug
Im Rahmen eines stationären Entzugs erhalten Betroffene die Gelegenheit, ihren Körper vollständig vom Alkohol zu befreien und zu entwöhnen. Sobald die Alkoholzufuhr beendet wurde, kann sich das geschädigte Nervensystem nach und nach regenerieren. Da bei einem Alkoholentzug starke, teils sogar lebensbedrohliche Entzugserscheinungen auftreten können, sollte dieser ausschließlich unter medizinischer Aufsicht durchgeführt werden.
Heilungsaussichten
Insofern die Erkrankung in einer leichten Form vorliegt, ist eine alkoholische Polyneuropathie bis zu einem gewissen Grad heilbar. Sobald die Erkrankung in einer fortgeschrittenen Form vorliegt, können bereits bestehende Nervenschäden jedoch nicht mehr rückgängig gemacht werden.
Alkoholbedingte Kleinhirndegeneration (AKD)
Breitbeiniges Gehen, Torkeln und Gleichgewichtsstörungen können bei Alkoholabhängigen auch im nüchternen Zustand auftreten. In diesem Fall liegt meist eine alkoholische Kleinhirndegeneration (AKD) vor. Sie entwickelt sich als Folgeerkrankung schädlichen Alkoholgebrauchs und kann innerhalb weniger Wochen, aber auch nach langem chronischem Konsum auftreten. Je früher eine Alkoholikerin oder ein Alkoholiker aufhört zu trinken, umso größer ist die Chance, dass sich die Beschwerden bessern. Bei chronischem Alkoholmissbrauch kann das Kleinhirn allerdings dauerhaft schrumpfen.
Ursachen des Kleinhirnschwunds
Bei alkoholabhängigen Personen können mehrere Faktoren zum Absterben von Nervenzellen (Neuronen) im Kleinhirn beitragen:
- Vitamin-B1-Mangel: Nervenzellen benötigen Vitamin B1 (Thiamin) zur Energiegewinnung. Fehlt es, nehmen die Zellen Schaden.
- Schädigung der Magen-Darm-Schleimhaut: Auf dem Weg durch den Verdauungstrakt kann der Alkohol (Ethanol) die Schleimhaut des Magen-Darm-Trakts schädigen, sodass der Körper weniger Vitamin B1 aufnehmen kann.
- Zellgifte im Gehirn: Über den Dünndarm gelangt der Alkohol in die Blutbahn und überwindet zusammen mit seinem Hauptabbauprodukt Acetaldehyd auch die Bluthirnschranke. So können die Zellgifte im Gehirn Neuronen zerstören.
- Geschwächte Leber: Alkohol wird in der Leber zunächst in Acetaldehyd abgebaut. Zu große Mengen davon schädigen die Zellfunktionen der Leber. Ist das Organ geschwächt, kann es oft kein Vitamin B1 mehr speichern.
- Mangelernährung: Viele Alkoholabhängige entwickeln zudem Ernährungsgewohnheiten, die Mangelerscheinungen begünstigen.
Symptome des Kleinhirnschwunds
Die Zellschäden im Gehirn zeigen sich anhand folgender Beschwerden:
- Fahrige, unkoordinierte Bewegungen
- Probleme, gegensätzliche Bewegungen auszuführen (Bewegungen in verschiedene Richtungen)
- Zittern bei gezielten Bewegungen, zum Beispiel beim Versuch, ein Glas zu greifen (Intentionstremor), oder ein unleserliches, verzittertes Schriftbild
- Schlaffe Muskulatur, da die Muskelspannung gestört ist
- Im späteren Verlauf können Sprech- und Sprachstörungen sowie abgehacktes Sprechen auftreten.
Aufgaben des Kleinhirns
Das Kleinhirn sorgt für die Feinabstimmung von Bewegungsabläufen und reguliert die Muskelspannung. Das Hirnareal liegt im hinteren Teil der Schädelgrube, teilweise verdeckt vom Großhirn. Fachleute unterscheiden drei Bereiche:
- Vestibulocerebellum: Beeinflusst die Körperhaltung, sichert das Gleichgewicht und ist wichtig für die Feinabstimmung der Augenbewegungen. Außerdem koordiniert es Bewegungsabläufe. Dafür erhält es Informationen aus dem Gleichgewichtsorgan im Innenohr.
- Spinocerebellum: Sorgt dafür, dass ein Mensch gehen und stehen kann, ohne darüber nachzudenken. Es verarbeitet Informationen darüber, in welcher Position sich Arme, Beine und Oberkörper befinden oder welche Muskeln angespannt sind. Dabei kontrolliert es Bewegungsentwürfe, insbesondere für die Zielmotorik.
- Pontocerebellum: Präzisiert und korrigiert willentliche Bewegungen. Es sorgt zum Beispiel dafür, dass eine Person gezielt nach etwas greifen kann, und steuert die Kehlkopfmuskulatur beim Sprechen. Das Pontocerebellum dirigiert Bewegungen und gleicht Abweichungen mit Vorerfahrungen ab.
Diagnose der alkoholischen Kleinhirndegeneration
Die Ärztin oder der Arzt befragt die betroffene Person nach ihren individuellen Trinkgewohnheiten. Eine anschließende Blutuntersuchung kann weitere Hinweise auf eine Schädigung liefern. Dabei werden im Labor vor allem das Blutbild sowie die Leber- und Gerinnungswerte bestimmt und der Vitamin-B1-Spiegel gemessen. Koordinations- und Gleichgewichtstests helfen dabei, das Ausmaß einer Kleinhirnschädigung abzuschätzen. Mittels Neurografie kann in einer neurologischen Praxis gemessen werden, wie schnell die Nervenbahnen Reize weiterleiten. Dafür werden Elektroden auf der Haut angebracht, die elektrische Impulse aussenden. Eine Computertomografie kann außerdem den Schwund des Kleinhirns sichtbar machen.
Behandlungsmöglichkeiten
In der Regel erhalten Betroffene zunächst ein Präparat mit Vitamin B1, unterstützend hilft eine ausgewogene Ernährung. Im Rahmen einer Physiotherapie können Koordinationsfähigkeit und Gleichgewicht gezielt trainiert werden. Die wirksamste Behandlungsmethode stellt jedoch der Verzicht auf Alkohol dar.
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