Anästhesie bei Epilepsie: Leitlinien und aktuelle Empfehlungen

In Deutschland leiden etwa 80.000 Kinder und Jugendliche an Epilepsie, einer neurologischen Erkrankung, die durch wiederholte Anfälle gekennzeichnet ist. Diese Anfälle können jederzeit auftreten und in einigen Fällen zu einem Status epilepticus führen, einem lebensbedrohlichen Zustand, der das Risiko neurologischer Folgeschäden birgt. Die S1-Leitlinie "Behandlung des Status epilepticus im Kindesalter" der Gesellschaft für Neuropädiatrie (GNP) empfiehlt daher, ein anfallsunterbrechendes Medikament spätestens fünf Minuten nach Beginn der Symptome zu verabreichen. Jenseits des Kleinkindalters ist die bukkale Gabe von Midazolam (Buccolam) die erste Wahl.

Anästhesie bei Epilepsiepatienten: Was ist zu beachten?

Die Durchführung einer komplikationslosen Narkose bei Epilepsiepatienten erfordert vom Anästhesisten spezielle Kenntnisse über mögliche Nebenwirkungen der Vormedikation und Begleiterkrankungen. Der Übergang vom wachen Zustand in den Schlaf ist ein häufiger Zeitpunkt für Anfälle. Fast alle anästhesierelevanten Medikamente wurden mit "krampfähnlichen" Ereignissen in Verbindung gebracht. Die Diskussion über epileptogene Eigenschaften verschiedener Anästhetika beruht oft auf einer unzureichenden Definition von Epilepsie und "epileptogen".

Epilepsie vs. Gelegenheitsanfall

Es ist wichtig zu verstehen, dass ein einzelner Krampfanfall nicht gleichbedeutend mit Epilepsie ist. Epilepsie ist eine chronische Erkrankung, die durch unvorhersehbare, wiederholte Anfälle oder paroxysmale Bewusstseins- oder Persönlichkeitsveränderungen gekennzeichnet ist. Ein einzelner Anfall kann viele Ursachen haben und eine "zerebrale Katastrophenreaktion" darstellen. Daher sollte ein einzelner Anfall während der Anästhesie, auch bei registrierten epileptiformen Potentialen, als Anfall mit generalisierten oder partiellen Krämpfen beschrieben werden.

Medikamentenauswahl

Kenntnisse über die epileptogenen Eigenschaften verschiedener Anästhetika sind entscheidend, um geeignete Medikamente für Patienten mit Epilepsie auszuwählen.

Der generalisierte Krampfanfall: Ursachen und Sofortmaßnahmen

Ein generalisierter Krampfanfall kann dramatisch aussehen und erfordert schnelles Handeln. Die Ursachen sind vielfältig und reichen von idiopathischen Epilepsien bis hin zu akuten Erkrankungen oder Verletzungen.

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Ursachen und Auslöser

Epilepsien sind seit dem Altertum bekannt, aber die Ursache ist noch nicht vollständig geklärt. In vielen Fällen ist die Krankheit genetisch bedingt. Auslöser für epileptische Anfälle können sein:

  • Schlafmangel
  • Unregelmäßiger Schlaf-Wach-Rhythmus
  • Stress
  • Fieber
  • Alkohol und Alkoholentzug
  • Drogen- oder Schlafmittelentzug
  • Flackerndes Licht

Verhalten bei einem epileptischen Anfall

Wenn man Zeuge eines epileptischen Anfalls wird, ist es wichtig, ruhig und besonnen zu bleiben.

  • Leichte Anfälle: Bei kurzen Absencen oder Muskelzuckungen besteht keine unmittelbare Gefahr. Unterstützung anbieten.
  • Anfälle mit eingeschränktem Bewusstsein: Die Person vor Gefahren schützen. Ruhig bleiben und Halt vermitteln.
  • Große generalisierte Anfälle:
    • Notruf 112 wählen.
    • Für Sicherheit sorgen und gefährliche Gegenstände entfernen.
    • Den Kopf des Betroffenen abpolstern.
    • Enge Kleidung am Hals lockern.
    • Nicht festhalten oder etwas in den Mund schieben.
    • Nach dem Anfall Unterstützung anbieten und in die stabile Seitenlage bringen, wenn die Person erschöpft ist.

Klassifikation epileptischer Anfälle

Die Internationale Liga gegen Epilepsie (ILAE) hat ein System zur Klassifizierung von Anfällen entwickelt. Im ersten Schritt wird nach dem Beginn des Anfalls unterschieden:

  • Fokaler Beginn: Der Anfall beginnt in einer Hirnhälfte.
  • Generalisierter Beginn: Der Anfall geht von beiden Hirnhälften aus.
  • Unbekannter Beginn: Der Beginn des Anfalls ist nicht bekannt.

Anfälle mit fokalem Beginn

Anfälle mit fokalem Beginn werden danach unterschieden, ob der Betroffene sie bewusst erlebt oder nicht. Anschließend werden sie nach ihrem anfänglichen Erscheinungsbild klassifiziert (motorisch oder nicht-motorisch).

  • Motorischer Beginn: Muskelaktivitäten wie Zuckungen, Krämpfe oder Erschlaffung.
  • Nicht-motorischer Beginn: Symptome wie Innehalten, kognitive Einschränkungen, emotionales Verhalten oder sensible/sensorische Störungen.

Anfälle mit generalisiertem Beginn

Ein generalisierter Anfallsbeginn wird von den Betroffenen niemals bewusst erlebt. Man beschreibt diese Anfälle nach ihren motorischen und nicht-motorischen Symptomen.

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  • Motorische Symptome: Tonische, klonische, myoklonische Muskelaktivitäten, Atonie oder epileptische Spasmen.
  • Nicht-motorische Symptome: Absencen (typisch oder atypisch), myoklonische Krampfanfälle oder Augenlid-Myoklonie.

Status epilepticus: Definition, Diagnose und Therapie

Der Status epilepticus (SE) ist ein lebensbedrohlicher Zustand, der als einzelner prolongierter Anfall oder als Serie von zwei oder mehr aufeinander folgenden Anfällen definiert ist, zwischen denen der neurologische Vorzustand nicht wiedererlangt wird. Nach neuen Kriterien wird ab einer Dauer von 5 Minuten ein SE angenommen, da ein spontanes Sistieren unwahrscheinlich wird und eine Therapie ohne Zeitverlust erfolgen sollte.

Formen des Status epilepticus

  • Etablierter SE: Dauer 10-30 (maximal 60) min, Therapie mit Benzodiazepinen bereits erfolgt.
  • Refraktärer SE: Dauer >30-60 min, kein Durchbrechen durch bisherige pharmakologische Intervention.
  • Superrefraktärer SE: Status epilepticici, die durch die bisher genannten Maßnahmen innerhalb von 24 h nicht zu durchbrechen sind.
  • Konvulsiver SE (CSE): Status generalisierter tonisch-klonischer Anfälle, die schwerste Form mit der höchsten Letalität.
  • Nonkonvulsiver SE (NCSE): SE ohne vordergründige motorische Symptome, der sich oft nur durch psychomotorische Verlangsamung und Desorientiertheit äußert.
  • „Subtle“ Status: Endstadium eines therapieresistenten konvulsiven Status mit diskreten motorischen Entäußerungen trotz persistierender iktaler EEG-Aktivität.
  • Absencenstatus: Nonkonvulsiver generalisierter SE, der sich als isolierte Bewusstseinstrübung manifestiert.

Diagnostik des Status epilepticus

Die initiale Diagnostik erfolgt klinisch, wobei auf Bewusstseinstrübung, Verletzungen und Vitalparameter geachtet wird. Eine Fremdanamnese ist anzustreben, um ein Erstereignis oder eine bekannte Epilepsie zu eruieren. In jedem Fall ist eine Blutentnahme zwingend, um Ursachen wie Intoxikationen, Elektrolytentgleisungen oder metabolische Störungen auszuschließen. Eine kranielle Bildgebung (CT) ist erforderlich, um akute Hirnläsionen auszuschließen. Die Diagnosesicherung, insbesondere des NCSE, erfolgt mittels EEG.

Therapie des Status epilepticus

Die Therapie muss bereits in der Prähospitalphase begonnen werden. Laienhelfer sollten den Notarzt hinzuziehen. Basismaßnahmen beinhalten das Freihalten der Atemwege und die Entfernung potenziell gefährdender Gegenstände.

Medikamentöse Therapie

Die Pharmakotherapie erfolgt stufenweise:

  • Stufe I: Benzodiazepine (Lorazepam i.v. ist die erste Wahl, alternativ Midazolam i.m./intranasal oder Diazepam i.v.).
  • Stufe II: Antikonvulsiva (Levetiracetam, Valproat oder Fosphenytoin).
  • Stufe III: Anästhetika (Midazolam, Propofol oder Thiopental) unter kontinuierlicher EEG-Überwachung.

Die Therapiesteuerung erfolgt EEG-basiert, wobei verschiedene Strategien in Betracht kommen (Unterdrückung von Anfallsaktivität, Erreichen eines Burst-Suppression-Musters oder Induktion eines isoelektrischen EEG).

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Epilepsie bei Frauen: Besonderheiten und Therapie

Die Zahl der Frauen mit Epilepsie in Deutschland liegt bei etwa 400.000. Auf 1.000 Geburten kommen drei bis vier Mütter mit Epilepsie.

Anfallshäufigkeit und Sexualhormone

Östrogene können eine anfallsfördernde Wirkung haben, während Progesteron eine anfallshemmende Wirkung zugeschrieben wird. Ein Teil der Epilepsiepatientinnen beschreibt eine zyklusabhängige Anfallszunahme (katameniale Anfallshäufung).

Therapieoptionen bei zyklusgebundener Anfallshäufung

Es liegen nur Open-label-Studien an kleinen Patientenkollektiven oder Kasuistiken vor, wobei Progesterone und Progestine, Gonadotropin-releasing-Hormon-Analoga sowie Antiöstrogene (Clomiphen) zu einer Verbesserung der Anfallsfrequenz geführt haben. Zyklische Gaben von Clobazam perimenstruell führten bei einigen Frauen zu Anfallsfreiheit.

Einflüsse der Antiepileptika auf den endokrinen Stoffwechsel

Enzyminduzierende Antiepileptika (Phenytoin, Phenobarbital, Carbamazepin) können den Spiegel von Sexualhormonen beeinflussen. Eine Valproat-Therapie wird mit der Entwicklung eines polyzystischen Ovar-Syndroms (PCOS) in Verbindung gebracht.

Kontrazeption bei Patientinnen mit Epilepsie

Orale Kontrazeptiva (OK) und manche Antiepileptika beeinflussen sich in ihrer Wirksamkeit gegenseitig. Enzyminduzierende Antiepileptika können die Sicherheit von synthetischen kontrazeptiven Steroiden mindern. Laut derzeitigen Empfehlungen sollten sich Frauen, die enzyminduzierende AE benötigen, nicht auf eine hormonelle Kontrazeption verlassen, sondern eine andere Art der Verhütung wählen und zusätzlich Kondome benutzen.

Schwangerschaft und Epilepsie

Das genetische Risiko für eine Epilepsie liegt bei 4 bis 5 Prozent für Kinder erkrankter Mütter und bei circa 2 Prozent für Kinder erkrankter Väter. Die Anfallsfrequenz bleibt bei 67 Prozent der Frauen in der Schwangerschaft unverändert, bei 17 Prozent kommt es zu einer Zunahme, bei 16 Prozent zu einer Abnahme der Anfallshäufigkeit. Eine konsequente auf die Schwangerschaft hin optimierte antiepileptische Therapie zielt nach wie vor auf Anfallsfreiheit der Mütter.

Teratogenität von Antiepileptika

Das Risiko für Nachkommen mit kongenitalen Fehlbildungen und für Aborte oder Fehlgeburten verdoppelt sich nach den bisher - überwiegend retrospektiven - vorliegenden Studien von 1 bis 2 Prozent in der Normalbevölkerung auf 3 bis 9 Prozent bei Frauen mit Epilepsie, die Antiepileptika einnehmen. Die höchste Fehlbildungsrate besteht unter Valproat bei Tagesdosen über 1000 mg.

Folsäuresubstitution/pränatale Vitamin-K-Gabe

Allen Frauen mit Kinderwunsch wird schon präkonzeptionell und im ersten Trimenon täglich 0,4 mg Folsäure empfohlen. Bei AE-Therapie, insbesondere bei Valproat- und Carbamazepin-Einnahme, werden 5 mg Folsäure pro Tag empfohlen.

Differenzialdiagnosen und Intensivmedizinische Aspekte

Im intensivmedizinischen Umfeld gewinnt der SE ohne vordergründige motorische Symptome - der nonkonvulsive Status epilepticus (NCSE) - an Bedeutung, weil er als Ursache einer jeden nicht anders erklärten Bewusstseinsstörung in Betracht kommt. Die Indikation zur antiepileptischen Therapie bedarf dabei der sorgfältigen Evaluation und orientiert sich v. a. am Umstand einer behobenen oder fortbestehenden Ursache bzw. dem Risiko von Komplikationen im Falle erneut auftretender Ereignisse.

Differenzierung von psychogenen Anfällen

Psychogene bzw. dissoziative Anfälle stellen eine relevante, klinisch häufig schwer abzugrenzende Differenzialdiagnose gegenüber epileptischen Anfällen dar. Zur diagnostischen Abgrenzung ist die simultane EEG essenziell, in der epileptische Muster typischerweise fehlen.

Spezifische Situationen

  • Schwangere: V.a. Eklampsie. Magnesiumsulfat 10% 40-60ml (ca. 16-24mmol Mg) iv. KI + zusätzlich Standard-Therapie wie Status Epilepticus.
  • Bekannter Alkoholabusus: V.a. (Alkohol-)Entzugsinduzierter Anfall, V.a. Mangelernährung. + zusätzlich Thiamin (Vit. B1) 100mg iv. KI.
  • Kinder (v.a. <6 J) + Fieber: V.a. Fieberkrampf (meist selbstlimitierend). Falls Fieber weiter vorhanden - senken: Paracetamol 15mg/kg iv. / po. oder Ibuprofen 10mg/kg po.

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