Die Polyneuropathie (PNP) ist eine Erkrankung des peripheren Nervensystems, die durch Schädigung mehrerer Nerven gleichzeitig gekennzeichnet ist. Die Therapie der Polyneuropathie umfasst sowohl kausale Ansätze zur Behandlung der zugrunde liegenden Erkrankung als auch symptomatische Ansätze zur Therapie der im Rahmen der Polyneuropathie auftretenden Beschwerden. Ziel dieses Artikels ist es, einen umfassenden Überblick über die aktuellen Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) zur Diagnose und Therapie der Polyneuropathie zu geben.
Ursachen und Diagnose von Polyneuropathien
Für Polyneuropathien gibt es zahlreiche Ursachen, darunter Diabetes mellitus, Alkoholkonsum, Autoimmunerkrankungen, Infektionen und genetische Faktoren. Wichtig ist es, die Erkrankung zu erkennen, da auch Polyneuropathien mit seltenen Ursachen unter Umständen behandelbar sind. Die Leitlinie soll beim Planen des diagnostischen Vorgehens helfen. Mögliche Auslöser, die unterschiedliche Formen von Polyneuropathie (PNP) verursachen können, sind unter anderem Organtransplantationen, das Hepatitis-E- und das Zikavirus, der Antikörper anti-FGF3 und Mutationen der Gene SCN9A, SCN10A, SCN11A (Small-Fiber-Neuropathien) sowie des GLA-Gens (M. Fabry mit schmerzhafter Neuropathie).
In der Diagnostik von PNP sind laut Leitliniengruppe Anamnese, klinische Untersuchung, Elektrophysiologie und Standardlabor obligatorisch. Im Bedarfsfall empfehlen die Autoren um den Koordinator der Leitlinie, Dieter Heuß, erweitertes Labor, Liquordiagnostik, Muskel-/Nerv-/Hautbiopsien, Genetik und bildgebende Diagnostik. Die Bildgebung der peripheren Nerven und Nervenfaszikel über hochauflösenden Ultraschall oder Magnetresonanz-Neurografie kann bei Immunneuropathien, erblichen Neuropathien und einigen Amyloidose-Formen hilfreich sein. In einigen Neuropathie-Fällen sind fokale oder generalisierte Nervenverdickungen in der hochauflösenden Bildgebung vorhanden. Darüber hinaus kann die Echogenität verändert sein, v. a. bei chronischen Immunneuropathien. Für die Differenzialdiagnose entzündlicher Polyneuropathien ist eine Liquoruntersuchung sinnvoll.
Genetische Untersuchung
Eine genetische Untersuchung ist indiziert bei positiver Familienanamnese für Polyneuropathie oder bei Zeichen einer hereditären Polyneuropathie (Hohlfuß, Krallenzehen, indolenter Verlauf), bei unklarer Genese, besonders im jungen Erkrankungsalter und bei kombinierter sensorischer und autonomer Dysfunktion mit Beginn im Kindes- oder frühen Erwachsenenalter. Ein nicht zu vernachlässigender Anteil der Fälle mit ätiologisch ungeklärter axonaler Polyneuropathie ist auf eine Repeatexpansion des RFC1-Gens zurückzuführen. Daher sollte eine genetische Abklärung der als chronische idiopathische axonale Polyneuropathie eingeordneten Fälle abhängig von der Schwere der Erkrankung erfolgen. Eine RFC1-Repeatexpansion kann auch mit einem GBS, einer idiopathischen sensorischen ataktischen Neuropathie oder einer Anti-MAG-Neuropathie, die auf Immuntherapien ansprechen, assoziiert sein. Bei klinischen Symptomen, die auf eine Transthyretin-assoziierte familiäre Amyloidneuropathie (ATTRv) hinweisen, sollte ebenfalls eine genetische Testung auf hATTR erfolgen. Die Diagnose einer hATTR-Neuropathie ist inzwischen sehr bedeutsam, da hierfür neue Therapien in Form einer RNA-interferierenden Substanz (Patisiran i.v. und Vutrisiran s.c.) und eines Antisense-Oligonukleotids (Inotersen s.c.) verfügbar sind.
Biopsie
Eine bioptische Abklärung ist indiziert bei Verdacht auf eine behandelbare Polyneuropathie, die anders nicht gesichert werden kann (z. B. Vaskulitis, therapierefraktäre CIDP, Amyloidose). Holotranscobalamin als frühester Marker eines Vitamin-B12-Mangels soll bei Verdacht auf Vitamin-B12-Mangel zusammen mit Methylmalonsäure im Serum bestimmt werden.
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Neue Kriterien für GBS und CIDP
Neu in der Leitlinie sind die überarbeiteten Kriterien für das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) und die chronische inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP): Die Diagnosesicherheit für CIDP wird nur noch für die Kategorien CIDP und mögliche CIDP angegeben. Für die CIDP wurden zudem Kriterien zur sensiblen Neurografie eingeführt. Vermuten Ärztinnen und Ärzte einen ungewöhnlichen Phänotyp einer immunvermittelten Neuropathie sollten die Antikörper gegen den nodalen/paranodalen Komplex bestimmt werden. Denn: Patientinnen und Patienten mit immunvermittelten Neuropathien und spezifischen Antikörpern gegen den nodalen/paranodalen Komplex sprechen besser auf Plasmapherese und B-Zell-depletierende Therapien als auf Standardtherapien der CIDP an.
Ursachen von Polyneuropathien: Nebenwirkung, Viren
Immun-Checkpoint-Inhibitoren verursachen selten schwere zentrale und periphere neurologische Nebenwirkungen. Dazu zählen akute inflammatorische demyelinisierende oder axonale sensomotorische Polyneuropathie, CIDP, (Meningo-)Polyradikulitis und enterische autonome Neuropathien. Auch bspw. TNF (Tumornekrosefaktor)-α-Blocker oder Interleukin-13-Antikörper können Immunneuropathien auslösen. Als weitere Ursachen listet die Leitlinie das Hepatitis-E-Virus und das Zika-Virus für das GBS und Plexusneuritiden.
Small-fiber-Neuropathie: genetische Faktoren, Autoantikörper, Diagnose
Bei einer Small-fiber-Neuropathie (SFN) lässt sich in 10-30 % durch Analyse der für spannungsgesteuerte Natriumkanäle kodierenden Gene eine seltene Variante nachweisen. Oft handelt es sich dabei um prädisponierende genetische Faktoren. Bei einem signifikanten Anteil der Fälle mit ätiologisch ungeklärter SFN liegt eine Repeatexpansion des RFC1-Gens vor. Zudem können bei einer SFN häufig Anti-FGF3-(Antifibroblast growth factor receptor 3), Anti-TS-HDS-IgM-(trisulfated-heparin-disaccharide) und Anti-Plexin-D1-Antikörper nachgewiesen werden. In diesen Fällen ist eine Therapie mit intravenösen Immunglobulinen nicht wirksam. Bei Verdacht auf SFN sind nützliche diagnostische Instrumente:
- klinische Testung
- quantitative sensorische Testung
- morphologische Quantifizierung der Hautinnervation
- ggf. Tests zur Frage einer Schädigung des autonomen Nervensystems
Die Wertigkeit der kornealen konfokalen Mikroskopie wird bisher uneinheitlich beurteilt.
M. Fabry und Lachgasmissbrauch im Hinterkopf haben
Da es therapeutisch relevant ist, sollten Ärztinnen und Ärzte bei Menschen mit Polyneuropathien, mit ausgeprägten neuropathischen Schmerzen, auch an einen M. Fabry mit Mutationen im GLA-Gen denken. Vermehrt wurden zudem auch Polyneuropathien bei Lachgasmissbrauch beschrieben.
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Therapie neuropathischer Schmerzen bei Polyneuropathie
Etwa 50 % aller Polyneuropathien gehen mit Schmerzen einher. Diese neuropathischen Schmerzen entstehen als direkte Folge einer Läsion oder Erkrankung des somatosensorischen Systems. Nach Nervenschädigung kommt es zu Veränderungen der primär betroffenen und umgebenden Nervenzellen mit daraus resultierender gesteigerter Erregbarkeit primärer Afferenzen (periphere Sensibilisierung) und verstärkter Erregbarkeit multirezeptiver Neurone im Rückenmark (zentrale Sensibilisierung).
Zur Linderung neuropathischer Schmerzen stehen verschiedene medikamentöse Ansätze zur Verfügung, die auf die zugrunde liegenden Pathomechanismen abzielen. Eine komplette Schmerzfreiheit kann mit den derzeit verfügbaren Medikamenten in der Regel nicht erzielt werden. Die oralen Medikamente sollten langsam aufdosiert und je nach Nebenwirkungen individuell titriert werden. Patienten sollten darüber aufgeklärt werden, dass die analgetische Wirkung zeitverzögert eintritt.
Medikamentöse Therapie
Die aktuelle S2-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) empfiehlt die Antikonvulsiva Gabapentin und Pregabalin sowie trizyklische Antidepressiva (TCA) und Duloxetin als Mittel der ersten Wahl zur Therapie neuropathischer Schmerzen.
Antikonvulsiva
Laut aktueller S2-Leitlinie der DGN sollen Gabapentin und Pregabalin als Mittel der ersten Wahl zur Therapie chronischer neuropathischer Schmerzen eingesetzt werden, unabhängig von der Ätiologie. Auch in einer Metaanalyse der Neuropathic Pain Special Interest Group (NeuPSIG) wird eine starke Empfehlung für den Einsatz von Gabapentin und Pregabalin ausgesprochen - bei einer „number needed to treat“ (NNT) von 6,3-8,3 für Gabapentin und 7,7 für Pregabalin. Nebenwirkungen unter der Therapie sind häufig und umfassen vor allem zentralnervöse Effekte wie Schwindel, Schläfrigkeit, Konzentrations- und Gleichgewichtsstörungen, die nicht selten zum Therapieabbruch führen.
Carbamazepin, Oxcarbazepin, Lamotrigin und Topiramat blockieren Natriumkanäle peripherer Nozizeptorafferenzen. Aufgrund der geringen Evidenz und häufiger Nebenwirkungen werden Carbamazepin und Oxcarbazepin laut Leitlinie nicht zur Behandlung von schmerzhaften Polyneuropathien empfohlen. Bei Versagen von Gabapentin und Pregabalin kann im Einzelfall ein Off-label-Versuch erfolgen, vor allem bei einschießenden Schmerzattacken. Das Nebenwirkungsprofil von Carbamazepin und Oxcarbazepin ist ungünstig und umfasst kognitive Störungen, Benommenheit, Müdigkeit, Schwindel, Ataxie und gastrointestinale Störungen, aber auch Hyponatriämie, Blutbildveränderungen, Leberschädigung oder allergische Hautreaktionen. Topiramat und Lamotrigin sollten im Allgemeinen nicht zur Therapie neuropathischer Schmerzen eingesetzt werden. Lamotrigin kann im Einzelfall (bei Human-immunodeficiency-virus[HIV]-Neuropathie) erwogen werden, sollte jedoch wegen Nebenwirkungen (allergische Hautreaktionen) vorsichtig aufdosiert werden. Lacosamid wirkt ebenfalls über Blockade von Natriumkanälen. In der aktuellen Leitlinie wird der generelle Einsatz bei unzureichender Datenlage nicht empfohlen.
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Antidepressiva
Die selektiven Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Duloxetin und Venlafaxin führen über eine Inhibition der Wiederaufnahme von Noradrenalin und Serotonin zu einer Verstärkung der endogenen deszendierenden Schmerzhemmung. Laut Leitlinie sollten TCA als Mittel der ersten Wahl eingesetzt werden. Insbesondere bei begleitenden Schlafstörungen kann sich Amitriptylin aufgrund seines sedierenden Effekts günstig auswirken. Bei der DPN ist Amitriptylin einem Placebo deutlich überlegen (NNT 5,1). Aufgrund der nichtselektiven Bindung sind Nebenwirkungen häufig. auf. Bei möglichen kardialen Komplikationen wird vor Therapiebeginn die Ableitung eines Elektrokardiogramms ab dem 65. Lebensjahr empfohlen.
Duloxetin ist in Deutschland als Mittel der ersten Wahl für die Behandlung der schmerzhaften DPN zugelassen. Die NNT für eine mindestens 50 %ige Schmerzreduktion liegt bei 5,8 für 60 mg/Tag bzw. 5,7 für 120 mg. Für eine Dosis unter 60 mg/Tag konnte kein wirksamer Effekt gezeigt werden. Venlafaxin hat in Deutschland keine Zulassung für die Behandlung neuropathischer Schmerzen, es kann jedoch in Einzelfällen „off label“ eingesetzt werden. In einem Review mit 13 Studien, darunter 8 zur Polyneuropathie, konnte eine signifikante Schmerzreduktion ab einer Dosis von 150 mg gezeigt werden. Zu Therapiebeginn treten häufig Übelkeit und Erbrechen auf, diese sind jedoch im Verlauf oft reversibel. Aufgrund potenzieller Blutdrucksteigerung werden regelmäßige Kontrollen empfohlen.
Topische Therapie
Ein Vorteil der Topika ist die geringe systemische Nebenwirkungsrate und somit gute Verträglichkeit, sodass der Einsatz vor allem für ältere Patienten empfohlen wird. Nach Nervenschädigung kommt es unter anderem zu einer Transient-receptor-potential-vanilloid-1(TRPV1)-Überexpression auf intakten Nervenfasern. Vom Capsaicinpflaster wird Capsaicin in die Haut freigesetzt und bindet selektiv TRPV1-Rezeptoren auf nozizeptiven Endigungen. Dies resultiert initial in einer Übererregbarkeit der Nervenfasern mit Brennen, Hyperalgesie, Allodynie und Rötung durch Freisetzung vasoaktiver Substanzen. Allgemein werden Capsaicinpflaster hinsichtlich ihres schmerzlindernden Effekts in verschiedenen Übersichtsarbeiten als vergleichbar zu anderen Therapieansätzen bewertet. Die S2-Leitlinie empfiehlt das Hochdosispflaster als zweite Wahl zur Therapie neuropathischer Schmerzen, bei lokalisierten Schmerzen auch als Primärtherapie. Generell sollte die Therapie so früh wie möglich im Krankheitsverlauf begonnen werden. Unter der Therapie können lokale Hautreaktionen wie Rötung, Brennen und Juckreiz, auftreten.
Lidocainpflaster wirken als Lokalanästhetika über Blockade spannungsabhängiger Natriumkanäle auf Nozizeptorafferenzen. Zudem bildet das Pflaster eine mechanische Barriere gegenüber äußeren Reizen mit Schutz vor Allodynie und Hyperalgesie. Laut Leitlinie können Lidocainpflaster in der Therapie lokalisierter neuropathischer Schmerzen als zweite Wahl eingesetzt werden (bei postherpetischer Neuralgie gegebenenfalls als erste Wahl), bei allen anderen Neuropathien „off label“. In mehreren offenen klinischen Studien konnte eine positive Wirkung von Lidocainpflastern bei DPN gezeigt werden, sodass der Einsatz grundsätzlich empfohlen wird. Da nur etwa 3 % des Lidocains systemisch absorbiert werden, sind systemische Nebenwirkungen selten.
Botulinumtoxin
Der schmerzlindernde Effekt intrakutaner Botulinumtoxin(BTX)-Injektionen entsteht durch verminderte Freisetzung proinflammatorischer Substanzen, Deaktivierung von Natriumkanälen und verminderten axonalen Transport mit Verhinderung einer peripheren und zentralen Sensibilisierung. In einer Metaanalyse zweier Studien zur Behandlung der DPN wurde eine signifikante Schmerzreduktion gezeigt. In einer placebokontrollierten Studie wurden 66 Patienten mit peripherem neuropathischem Schmerz untersucht (14 mit schmerzhafter Polyneuropathie). Es fand sich eine signifikante Schmerzlinderung über 24 Wochen (NNT 2,5). Insgesamt wurde aufgrund der unzureichenden Datenlage eine Level-B-Empfehlung für BTX bei DPN ausgesprochen.
Opioide
Opioide wirken als Agonisten an µ‑Opioidrezeptoren im zentralen Nervensystem. Einige Opioide wirken zusätzlich auf die endogene Schmerzmodulation. Je nach Wirksamkeit werden niederpotente und hochpotente Opioide unterschieden, wobei jeweils die Morphinäquivalenzdosis angegeben wird. Neben zentralnervösen Nebenwirkungen (Schwindel, Müdigkeit, Konzentrationsstörungen) und Obstipation, kann es im Verlauf auch zu einer Toleranzentwicklung kommen. Der Einsatz von Opioiden mit dualem Wirkmechanismus liefert einen zusätzlichen analgetischen Nutzen. Das niederpotente Tramadol hemmt neben seiner Wirkung am µ‑Rezeptor die Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahme. Tapentadol wirkt zusätzlich über eine Noradrenalinwiederaufnahmehemmung. In einer Analyse zweier placebokontrollierter Studien zur Behandlung der DPN konnte durch den Einsatz von Tapentadol eine signifikante Schmerzlinderung erzielt werden. In der NeuPSIG-Leitlinie werden niederpotente Opioide als zweite Wahl und hochpotente Opioide als dritte Wahl empfohlen.
Neue Therapieansätze
Aufgrund der unzureichenden Schmerzlinderung und häufiger Nebenwirkungen unter den derzeit verfügbaren Medikamenten werden in aktuellen Studien neue Therapeutika zur Behandlung neuropathischer Schmerzen untersucht.
Cannabinoide
Cannabinoide wirken als Agonisten am Cannabinoidrezeptor Typ 1 (CB1). Die Hauptkomponenten sind Tetrahydrocannabinol und Cannabidiol. In einem aktuellen Cochrane-Review zeigte sich eine deutlichere Schmerzreduktion unter Cannabinoiden im Vergleich zu Placebo, allerdings auch häufiger zentrale Nebenwirkungen. Insgesamt waren die einzelnen Studien klein, von kurzer Dauer und aufgrund der unterschiedlichen Formulierungen und des unterschiedlichen Studiendesigns nicht vergleichbar.
Gene Silencing
Ein neuer vielversprechender Ansatz zur Therapie ist das „gene silencing“ mutierter Gene. Kürzlich wurden mit Inotersen und Patisiran zwei Medikamente zur Behandlung der hereditären Transthyretin-Amyloidose mit Polyneuropathie zugelassen, die über ein genetisches Knock-down des betroffenen Proteins Transthyretin wirken.
Supportive Maßnahmen
Da Polyneuropathien häufig mit einer sensiblen Ataxie und motorischen Ausfällen einhergehen, sollte die medikamentöse Therapie um physiotherapeutische Maßnahmen ergänzt werden. Ziele sind unter anderem die Verbesserung von Stand, Gang und Gleichgewicht sowie ein gezieltes Training der Muskelkraft. Zur Verbesserung der Feinmotorik können ergotherapeutische Maßnahmen eingesetzt werden. Neben sensiblen und motorischen Symptomen können auch autonome Funktionsstörungen, wie eine orthostatische Hypotonie oder gastrointestinale Störungen, auftreten, die eine gezielte Therapie erfordern. Bei klinisch häufig im Vordergrund stehender sensibler Gang- und Standataxie sowie diffuser Schwindelsymptomatik ist Physiotherapie mit integrierter Gangschulung und Gleichgewichtstraining einsetzbar. Hilfsmittelversorgung und -optimierung sind fester Bestandteil in der Versorgung von Patienten mit Neuropathien, um die Mobilität, Selbstständigkeit in Alltag und Beruf zu unterstützen und zu erhalten.
Hereditäre Neuropathien
Hereditäre Neuropathien sind eine Gruppe klinisch und genetisch heterogener Erkrankungen des peripheren Nerven. Die Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung (CMT), auch hereditäre motorische und sensorische Neuropathie (HMSN) genannt, ist die häufigste Form der hereditären Neuropathien mit einer Prävalenz von ca. 1:2.500. In Abgrenzung zur CMT sind die rein motorischen und rein sensiblen Neuropathien zu sehen, u.a. die hereditären distal motorischen Neuropathien (dHMN) und hereditären sensiblen Neuropathien (HSN) oder mit (autonomer Beteiligung) HSAN. Eine Sonderform ist die HNPP (hereditäre Neuropathie mit Neigung zu Druckparesen). Klinisch und elektroneurografisch lassen sich hereditäre und erworbene Neuropathien nicht voneinander unterscheiden.
Die Familienanamnese bei hereditären Neuropathien kann leer sein, u.a. bei Spontanmutationen (de-novo-Mutationen) oder bei autosomal-rezessivem Vererbungsmodus. Die ersten Symptome müssen nicht in der Kindheit und in der Jugend auftreten. Neuropathien mit „late onset“, d.h. Symptombeginn im mittleren bis späteren Lebensalter sind bekannt. Seit Beschreibung des ersten Neuropathie-Gens 1991 für die am häufigsten vorkommende CMT1A (PMP22-Gen) sind mittlerweile mehr als 130 Gene bekannt, die mit einer Neuropathie assoziiert sein können. Heutzutage stehen Multi-Gen-Panel und Exom-Sequenzierung zur Verfügung, sehr hilfreich für die endgültige Diagnosestellung. Nur Personen mit molekulargenetisch gesicherter Neuropathie werden an künftigen Therapie-Studien teilnehmen können. Nervenbiopsien (in der Regel N. suralis) kommen durch die Molekulargenetik weit seltener zur Anwendung als noch vor einigen Jahren. Sie spielen noch eine Rolle bei akuten, inflammatorischen und rasch progredienten Neuropathien.
Bis dato sind für die hereditären Neuropathien noch keine medikamentösen Therapien bekannt. Eine Ausnahme ist die Neuropathie bei der hereditären ATTR-Amyloidose. Seit 2011 steht ein Molekülstabilisator (Tafamidis) zur Verfügung und seit 2018 Gene-Silencing-Therapien. Bei schmerzhafter Neuropathie kommen verschiedene Substanzen zum Einsatz: u.a. Pregabalin, Gabapentin, Amitryptilin, Duloxetin, Tramadol… Supportiv stehen für die CMT-Neuropathien Physio- und Ergotherapie zur Verfügung, die regelmäßig und fortlaufend erfolgen sollten. Dies dient der Vermeidung sekundärer Komplikationen wie Muskel- und/oder Sehnenverkürzungen und daraus folgender Gelenkkontrakturen und Schmerzen.
CMT-Register
Alle Personen mit CMT-Neuropathie in Deutschland und Österreich können sich registrieren unter www.cmt-register.de. Dies ist eine Informationsplattform für alle, die sich registriert haben.
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