Die Polyneuropathie, eine Erkrankung des peripheren Nervensystems, betrifft schätzungsweise 5-8 % der Erwachsenen. Diabetes mellitus ist eine der häufigsten Ursachen. Die Erkrankung kann sich durch vielfältige Symptome äußern, von leichten Missempfindungen bis hin zu starken Nervenschmerzen und Muskelschwäche. Da medikamentöse Therapieansätze oft nur begrenzt wirksam sind, rücken alternative Behandlungsmethoden wie die Elektrostimulation in den Fokus.
Diabetische sensomotorische Polyneuropathie (DSPN)
Etwa jeder dritte Mensch mit Diabetes entwickelt eine diabetische sensomotorische Polyneuropathie (DSPN), die zahlenmäßig häufigste und klinisch bedeutsamste Form der diabetischen Neuropathie. Ihre Bedeutung und die Beeinträchtigung der Lebensqualität werden oft unterschätzt. Die Prävalenz der schmerzhaften DSPN liegt je nach Definition zwischen 13 und 26 %. Typische Symptome sind Schmerzen, Parästhesien, Dysästhesien und Taubheitsgefühl, seltener Allodynie und Hyperalgesie. Die neuropathischen Symptome breiten sich typischerweise von distal (Zehen, Füße) nach proximal (Unterschenkel) aus („dying back neuropathy“). Die Schmerzen werden als brennend („burning feet“), bohrend, einschießend, krampfartig oder stechend beschrieben. Nächtliche Exazerbationen und eine Besserung beim Gehen sind charakteristisch.
Die Diagnose einer sensibel-schmerzhaften DSPN erfolgt durch Screeningtests mit Bedside-Instrumenten wie Stimmgabel, Monofilament oder Plastik-Metall-Stift zur Messung der Vibrations-, Berührungs- und Temperaturempfindung. Eine neurologische Untersuchung sollte mindestens einmal jährlich durchgeführt werden, idealerweise unter Verwendung standardisierter Scores wie dem Neuropathie-Symptom-Score (NSS), dem Neuropathie-Defizit-Score (NDS) oder dem Michigan Neuropathy Screening Instrument (MNSI). Bei neuropathischen Schmerzen wird die numerische Ratingskala (NRS) eingesetzt, wobei ein Schmerzniveau von ≥ 4 als klinisch relevant gilt.
Kausale Therapie und Schmerztherapie
Eine möglichst normnahe Diabeteseinstellung ist die primäre Maßnahme, um das Fortschreiten der DSPN hinauszuzögern. Risikofaktoren wie Adipositas, Bewegungsmangel, Rauchen, übermäßiger Alkoholkonsum und Begleiterkrankungen müssen berücksichtigt und therapiert werden, idealerweise durch Änderung des Lebensstils. Die Schmerztherapie zielt lediglich auf eine Symptomlinderung ab, ohne den neuropathischen Prozess zu verzögern oder die neuronale Funktion zu verbessern. Die Therapie der schmerzhaften DSPN kann schwierig sein, da dosisabhängige Nebenwirkungen die Einstellung der optimalen Wirkdosis erschweren. Nur bei etwa der Hälfte der Patienten ist eine mindestens 50%ige Schmerzreduktion durch eine Einzelsubstanz zu erwarten, sodass oft eine analgetische Kombinationstherapie erforderlich ist.
Realistische Ziele einer medikamentösen Therapie bei neuropathischen Schmerzen sind:
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- Schmerzreduktion um 30-50 % auf der VAS (Visuelle Analogskala) oder der NRS (Numerische Rating Skala)
- Verbesserung des Schlafs
- Verbesserung der Lebensqualität
- Erhaltung/Wiedererlangung sozialer Aktivitäten und der sozialen Teilhabe
- Erhaltung/Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit
Hochfrequente Rückenmarkstimulation (SCS)
Bei Pharmakotherapie-refraktären neuropathischen Schmerzen stellt die hochfrequente Rückenmarkstimulation (Spinal Cord Stimulation, SCS) eine vielversprechende Behandlungsoption dar. Dabei werden Elektroden anatomisch im Epiduralraum platziert, die mit einer Frequenz von 10 000 Hertz (10-kHz-SCS) Impulse an das Rückenmark abgeben.
Studienergebnisse zur SCS bei DSPN
Eine kürzlich publizierte randomisierte kontrollierte Studie zeigte eine signifikante Schmerzreduktion mit hohen Ansprechraten (79 vs. 5 %) sowie eine Verbesserung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität gegenüber einer Standardtherapie nach 6 Monaten. Nach 6 Monaten wurde die SCS allen Teilnehmern mit Standardtherapie angeboten, wobei diese Ergebnisse nach weiteren 6 Monaten bestätigt werden konnten.
Vor der dauerhaften Implantation des Impulsgenerators wird die individuelle Wirksamkeit der SCS geprüft. Während dieser Testphase erfolgt die Stimulation mit einem externen Stimulator. Studien haben gezeigt, dass die Implantation der SCS-Geräte auch bei Patienten mit erhöhtem Infektionsrisiko aufgrund von Diabetes sicher und komplikationslos verläuft, wobei erhöhte Infektionsraten nicht nachgewiesen werden konnten. Bei Ansprechen auf die SCS-Testphase erfolgt die Implantation des dauerhaften, wiederaufladbaren Impulsgenerators im Rücken- beziehungsweise Gesäßbereich. Bei Non-Respondern ist die Therapie komplett reversibel. Die Elektroden lassen sich ohne Neben- oder Nachwirkungen wieder entfernen. Ein anschließendes Follow-up durch regelmäßige Kontrollen ist unabdingbar.
SENZA-PDN-Studie
Die SENZA-PDN-Studie untersuchte, ob die 10-kHz-SCS kombiniert mit konventioneller medikamentöser Therapie (CMM) neuropathische Schmerzen bei Patienten mit DSPN lindern kann, die sich als therapierefraktär gegenüber alleinigem CMM gezeigt haben. Patienten mit schmerzhafter DSPN seit mindestens 12 Monaten und Schmerzen von mindestens 5 von 10 cm auf der VAS, die sich als refraktär gegenüber der Pharmakotherapie erwiesen haben, wurden in die Studie eingeschlossen. Die Teilnehmer wurden randomisiert auf Pharmakotherapie (CMM) oder CMM mit zusätzlicher 10-kHz-SCS.
Nach 6 Monaten konnten die Patienten den Behandlungsarm wechseln, wenn der Behandlungserfolg nicht ausreichend war (weniger als 50 % Verbesserung). Während von den 113 Probanden der SCS-Gruppe niemand wechselte, waren es aus der CMM-Gruppe 77 von 95 Patienten. Die Auswertung über 12 Monate schloss 84 Teilnehmer ein, die initial auf SCS randomisiert worden waren, und 58 Teilnehmer, die nach 6 Monaten SCS im Cross-over erhielten. Die Ansprechraten (Schmerzlinderung ≥ 50 %) nach 12 Monaten lagen bei 86 % der Studienteilnehmer mit 10-kHz-SCS. Die durchschnittliche Schmerzlinderung gegenüber dem Ausgangswert betrug 77,1 %. Von 154 permanent implantierten Impulsgeneratoren wurden 5 explantiert (Explantationsrate: 3,2 %), die auf verfahrensbedingte Infektionen zurückzuführen waren. Verbesserungen der sensomotorischen Nervenfunktionen wurden bei mehr als 60 % der 10-kHz-SCS-Behandlungsgruppe beobachtet.
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Klinische Anwendung und Ergebnisse
Die hochfrequente Rückenmarkstimulation wurde erstmals 2018 bei Patienten mit therapierefraktärer schmerzhafter DSPN in Linz-Remagen eingesetzt. Eine retrospektive Auswertung der ersten 12 Patienten bestätigte die guten Behandlungsergebnisse, die mit dieser Methode bei chronisch-neuropathischen Rücken- und Beinschmerzen erzielt werden konnten. Bei 10 von 12 Patienten wurde ein ausgeprägter Schmerzrückgang beobachtet, sodass sie nachfolgend das definitive Implantat erhielten, und 9 von 12 Patienten sprachen auch nach 6 Monaten an. Die Schmerzreduktion nach 6 Monaten betrug 80 %. 6 von 10 Patienten der SCS-Gruppe konnten ihre Schmerzmedikation reduzieren, bei 2 von ihnen beschränkte sich die Schmerztherapie einzig auf die 10-kHz-SCS.
Weitere Elektrostimulationsverfahren
Neben der hochfrequenten Rückenmarkstimulation gibt es weitere Elektrostimulationsverfahren, die bei Polyneuropathie eingesetzt werden können:
Transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS)
Die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) ist eine Methode, bei der Strom-Impulse über Elektroden unter die Haut geschickt werden. Die Elektroden werden in der Nähe der schmerzenden Bereiche angebracht. TENS kann bei Polyneuropathie eine wirksame und schonende Möglichkeit zur Schmerzlinderung sein, indem es die körpereigene Schmerzkontrolle aktiviert, die Durchblutung verbessert und möglicherweise die Nervenregeneration fördert. Die Wirkung der elektrischen Signale wird teils mit der sogenannten Gate-Control-Theorie erklärt: Die Impulse stimulieren Nervenfasern, die eigentlich Berührungsreize weiterleiten und im Rückenmark mit den Schmerzfasern verschaltet sind.
Die Patienten setzen TENS regelmäßig für etwa 15 bis 20 Minuten am Tag ein und berichten von deutlichen Verbesserungen. Die handlichen Geräte können am Körper getragen und bei Bedarf eingeschaltet werden. Das Verfahren hat kaum Nebenwirkungen, in seltenen Fällen kann es zu Hautreizungen an der Klebstelle kommen. Die Kosten für die Geräte werden bei chronischen Schmerzen von den Krankenkassen übernommen.
Eine Meta-Analyse von 2022 mit insgesamt 381 randomisierten, kontrollierten Studien legt eine Wirksamkeit nahe. Die Forscherinnen und Forscher kamen zu dem Schluss: TENS lindert Schmerzen vermutlich besser als ein Placebo. Auch im Vergleich zu anderen medikamentösen und nicht-medikamentösen Therapien ergab das Verfahren einen Nutzen.
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Von einer TENS-Behandlung abraten würde man Menschen mit einem Herzschrittmacher oder einer Epilepsie. In Deutschland ist sie auch für Schwangere nicht empfohlen.
Hochtontherapie
Die Hochtontherapie (HiToP, HTEMS, high tone power therapy) ist ein neuartiges Verfahren zur elektronischen Stimulation von Körperzellen und wird der physikalischen Therapie zugeordnet. Sie wird zur Behandlung von Polyneuropathien eingesetzt, wenn Medikamente nicht ausreichend wirksam oder durch unerwünschte Nebenwirkungen belastet sind, nicht vertragen oder patientenseitig abgelehnt werden, häufig aber auch in Ergänzung und zur Wirkverbesserung medikamentöser Therapie.
Über Elektroden, die an verschiedenen Stellen des Oberschenkels schmerzfrei angebracht werden, wird dem Körper elektrische Energie in Form von variierenden Wechselströmen mit sehr hohen Frequenzen zwischen 4096 und 32768 Hertz (Hochtonfrequenzbereich über 3 Oktaven) zugeführt. Die Patienten spüren dabei ein leichtes Kribbeln im Bereich der Elektroden und deutlich spürbare, aber keineswegs unangenehme Muskelkontraktionen. Die Energie dringt sehr tief ins Gewebe ein und regt Strukturen unterschiedlicher Größe an. Körper-Gewebszellen unterschiedlicher Größe werden in Schwingungen versetzt und zu vermehrtem Stoffwechsel angeregt.
Die Therapie ist nebenwirkungsfrei, nicht belastend und wird von den Patienten mit einem gesteigerten Vitalitätsgefühl nach Therapieende beschrieben. Zuweilen führt die Stoffwechselanregung zu vermehrter Urinproduktion, Diabetiker beobachten möglicherweise einen reduzierten Insulinbedarf.
Weitere Therapieansätze bei Polyneuropathie
Ergänzend zu den Elektrostimulationsverfahren gibt es weitere Therapieansätze, die bei Polyneuropathie eingesetzt werden können:
- Physiotherapie und Ergotherapie: Diese Therapieformen zielen darauf ab, dieFunktion der geschädigten Nerven zu verbessern, die Gangsicherheit zu erhöhen, die Schmerzbewältigung zu fördern und dieBeweglichkeit zu erhalten oder wiederherzustellen.
- Hydro- und Thermotherapie: Trockenbürsten, Wassertreten nach Kneipp oder kalte Unterschenkelgüsse können die Durchblutung anregen und einen Reiz auf die Nervenrezeptoren ausüben.
- Ernährung und Vitamine: Eine ausgewogene Ernährung mit ausreichend Vitaminen, insbesondere Vitamin B1, B12 und Folsäure, ist wichtig.
- Ordnungstherapie: Lebensstilfaktoren wie Rauchen, Bewegungsmangel und Alkoholkonsum sollten reduziert werden. Entspannungsverfahren, Yoga oder Akupunktur können bei chronischem Stress hilfreich sein.
- Phytotherapeutische Präparate: Teufelskrallen-Präparate, Aconit-Nervenöl, Nelken-, Rosmarin- oder Minzöl können zur Linderung der Beschwerden beitragen.
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