Epileptische Erkrankungen sind mit einer Häufigkeit von 0,5 bis 1 % der Gesamtbevölkerung und 33,3 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohnern pro Jahr relativ häufige neurologische Leiden. Während die medikamentöse Behandlung von Epilepsie große Fortschritte gemacht hat, bleiben die seelischen und psychosozialen Folgen oft ein ungelöstes oder nur schwer erträgliches Problem. Dieser Artikel gibt einen Überblick über Psychosen, Depressionen, Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen, arzneimittelbedingte Wesensänderungen und psychoreaktive Konsequenzen im Zusammenhang mit Epilepsie.
Seelische und psychosoziale Störungen bei Epilepsie
Seelische und psychosoziale Störungen bei Epilepsie sind ein unterschätztes Phänomen, das vor allem Patienten mit Temporallappenepilepsie betrifft, sowie solche, die nicht auf antiepileptische Medikamente ansprechen. Psychische Symptome können je nach Zeitpunkt des Anfallsgeschehens als Anfalls-Vorboten (Prodromi), Aura (kurz vor Anfallsbeginn), Hauptbestandteil des Anfalls (iktal), nach dem Anfall (postiktal) oder im anfallsfreien Intervall (interiktal) auftreten.
Psychosen bei Epilepsie
Eine Psychose ist eine schwere psychische Störung, bei der Realitätsbezug, Einsicht und die Fähigkeit, alltäglichen Anforderungen gerecht zu werden, stark beeinträchtigt sind. Man schätzt, dass 4 bis 10 % aller Epilepsie-Patienten mit Psychosen zu kämpfen haben. Typischerweise dominieren positive Symptome wie Sinnestäuschungen und wahnhafte Störungen. Im Gegensatz zu schizophrenen Psychosen treten affektive Verflachung oder Residualsyndrome seltener auf.
Psychotische Zustände können in verschiedenen Phasen des Anfallsgeschehens auftreten. Häufig sind es paranoide oder paranoid-halluzinatorische Symptome mit oder ohne Bewusstseinsstörungen. Risikofaktoren sind eine lange Krankheitsdauer ohne Anfallsfreiheit, Kombination von Grand mal- und komplex-fokalen Anfällen, bestimmte ältere Antiepileptika und eine Psychose in der Vorgeschichte.
Interiktale oder paradoxe Psychose
Ein besonderes Problem ist die interiktale oder paradoxe Psychose, die in den anfallsfreien Intervallen auftritt. Diese entwickelt sich oft nach mehrjähriger Epilepsie-Erkrankung, meist mit optischen Halluzinationen, seltener mit akustischen. Im Gegensatz dazu treten bei Psychosen nach dem Anfall eher maniforme Erscheinungsbilder mit euphorisch-ekstatischer Stimmungslage auf.
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Alternativ-Psychose
Ein weiteres interessantes Phänomen ist die Alternativ-Psychose, die auftreten kann, wenn epileptische Anfälle spontan oder durch erfolgreiche antiepileptische Behandlung zurückgehen oder verschwinden. Es scheint ein Entweder-oder-Prinzip zu gelten: Entweder Anfälle oder Psychose.
Depressive Zustände bei Epilepsie
Depressive Zustände treten bei Epilepsie-Patienten häufiger auf als bei anderen chronisch Kranken. Interessanterweise findet man umgekehrt bei depressiven Patienten auch eine Häufung von Epilepsien. Es wird vermutet, dass eine biologische Beziehung zwischen beiden Erkrankungen besteht. Die Häufigkeit depressiver Störungen hängt auch mit der Schwere der Epilepsie zusammen.
Vor den Anfällen treten vor allem Missstimmung (Dysphorie), Ängste und Reizbarkeit auf, seltener ausgeprägte depressive Stimmungstiefs. Während des Anfalls sind Gemütsbeeinträchtigungen am ehesten in Form einer Aura zu finden. Nach dem Anfall halten Depressionen in der Regel nur kurz an, können aber immer wieder auftreten. Am häufigsten sind Verstimmungen zwischen den Anfällen, oft ohne Bezug zur Anfallsaktivität.
Das Beschwerdebild einer Epilepsie-Depression unterscheidet sich oft von anderen Depressionen. Der Schwerpunkt liegt eher auf gedrückter Stimmung, Mattigkeit, Antriebsarmut, Schlafstörungen, Ängsten und körperlichen Beschwerden ohne organischen Befund. Depressive Zustände zwischen den Anfällen brechen frühestens zwei Jahre nach Ausbruch der Epilepsie aus und halten charakteristischerweise nur wenige Tage oder Stunden an. Übergänge zu psychotischen Zustandsbildern sind möglich. Auch depressive Verstimmungen als Folge antiepileptischer Behandlung sind nicht zu unterschätzen.
Angststörungen bei Epilepsie
Angststörungen nehmen generell zu, was auch Epilepsie-Patienten betrifft. Insbesondere ältere Epilepsie-Kranke leiden häufig unter Angststörungen. Auch hier unterscheidet man Angstsymptome vor, während, nach einem epileptischen Anfall und dazwischen. Angststörungen können auch im Rahmen der Kombination Epilepsie/Psychose auftreten.
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Angststörungen finden sich bei Epilepsien auch als Angst-Aura sowie als psychologisch verstehbare Reaktion um den Anfall herum. Angstzustände können Stunden bis Tage dem nächsten Anfall vorausgehen. Die häufigsten Angstformen bei Epilepsie sind Panikattacken, Agoraphobie, Sozialphobie, generalisierte Angststörung und posttraumatische Belastungsstörung.
Persönlichkeitsstörungen bei Epilepsie
Persönlichkeitsstörungen sind ein komplexes Thema, das auch im Rahmen von Epilepsien diskutiert wird. Tatsächlich finden sich Persönlichkeitsstörungen bei Epilepsie gegenüber der Normalbevölkerung leicht erhöht. Das frühere Konzept der "epileptischen Wesensänderung" entspricht nicht mehr den heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Trotzdem bleiben einige Symptome übrig, die diagnostisch und klassifikatorisch eingeordnet werden müssen.
Pharmakogene und psychosoziale Veränderungen
Zwei wichtige Aspekte sind die pharmakogenen Veränderungen (durch Arzneimittel) und die psychosoziale Reaktion der Betroffenen. In psychischer Hinsicht belastet vor allem eine Dämpfung mit Beeinträchtigung von Merkfähigkeit, Auffassungs- und Konzentrationsfähigkeit, seelischem und psychomotorischem Tempo sowie Denkvermögen. Die psycho-reaktiven Folgen gehen zumeist auf Zurücksetzung und Minderwertigkeitsgefühle zurück.
Durch Anfälle sowie organisch und/oder medikamentös bedingte seelische und psychosoziale Konsequenzen nehmen die Betroffenen in der Familie und am Arbeitsplatz eine Außenseiter-Stellung ein. Viele Aktivitäten dürfen wegen der Eigengefährdung durch Anfälle nicht mehr ausgeübt werden. Auch Beschäftigungen mit Publikumsverkehr oder Arbeiten, bei denen ständige Aufmerksamkeit erforderlich ist, sind problematisch. Das Fahren eines Kraftfahrzeuges bedarf einer besonderen Prüfung und Kontrolle. Freizeitaktivitäten wie Schwimmen, Radfahren, Rudern u. a. müssen ggf. aufgegeben oder können nur mit einer Kontrollperson ausgeführt werden.
Diagnose und Behandlung
Die Diagnose einer epileptischen Wesensveränderung oder organischen Psychose erfordert eine sorgfältige Anamnese, neurologische Untersuchung und gegebenenfalls weitere diagnostische Maßnahmen wie EEG und Bildgebung des Gehirns. Es ist wichtig, andere Ursachen für psychische Symptome auszuschließen.
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Die Behandlung umfasst in der Regel eine Kombination aus medikamentöser Therapie und Psychotherapie. Antiepileptika können helfen, die Anfälle zu kontrollieren und damit auch psychische Symptome zu reduzieren. Psychotherapie kann den Betroffenen helfen, mit ihren Ängsten, Depressionen und psychosozialen Problemen umzugehen.
Da die Grenzen zwischen normalen Überzeugungen und Wahngedanken oft fließend sind, beginnt die Diagnosestellung üblicherweise mit einer Anamnese, also einer gründlichen Befragung zum aktuellen Befinden und zur Vorgeschichte der Störung. Im weiteren Verlauf wird die Diagnose einer wahnhaften Störung durch Fachpersonal im Bereich der Psychotherapie oder der Psychiatrie gestellt, wobei der Fokus auf den spezifischen, anhaltenden Wahnvorstellungen der Patientinnen und Patienten liegt. Organische Erkrankungen sollten über entsprechende Untersuchungen (zum Beispiel Laboruntersuchungen und Bildgebung des Gehirns) ausgeschlossen werden.
Akute und chronische organische Psychosyndrome
Für den Kinder- und Jugendpsychiater ergibt sich aus praktischen Gesichtspunkten sinnvollerweise eine Einteilung der organischen Psychosyndrome in akute und chronische. Meist wird er zur Diagnostik und Behandlung chronischer Psychosyndrome konsultiert. Im Konsiliardienst oder in der Notaufnahme (Drogenpsychosen!) werden jedoch auch akute organische Psychosyndrome differenzialdiagnostisch und -therapeutisch zu beurteilen sein. Die Unterscheidung akuter und chronischer Psychosyndrome erfolgt willkürlich anhand des zeitlichen Verlaufes. Es herrscht keine Einigkeit darüber, wann von akut, subakut oder chronisch gesprochen werden kann.
Akute organische Psychosyndrome
Leitsymptom akuter organischer Psychosyndrome ist die plötzliche quantitative und qualitative Einschränkung bzw. Veränderung des Bewusstseins. Regelhaft sind nach Vigilanzstörungen anterograde und retrograde Amnesien zu beobachten. Erstere sind meist Folge von Kontaktverletzungen oder Beschleunigungen des Kopfes einschließlich des massenträgen Gehirns relativ zum Körper. Sekundäre Hirnschäden treten in zeitlichem Abstand zum Trauma in Folge von Hypoxie, Freisetzung exzitatorischer Aminosäuren, erhöhtem intrakraniellem Druck, Infektionen oder subakuten intrakraniellen Blutungen (symptomfreies Intervall!) auf.
Typischerweise liegen zerebrale Kontusionsherde frontopolar, in den orbitalen Gyri sowie in den Temporallappen. Eine diffuse axonale Hirnschädigung nach SHT ist die häufigste Ursache bleibender schwerer Hirnschäden. Sie tritt meist in Folge von solchen Verkehrsunfällen auf, bei denen das Gehirn starken Scherkräften ausgesetzt ist.
Differenzialdiagnostik akuter Psychosyndrome
Eine Unterbrechung des Bewusstseinszustandes bedeutet für Kinder nach dem „Aufwachen“ eine erhöhte affektive Belastung. Sie haben es sehr viel schwerer als Erwachsene, sich wieder in der realen Welt zurechtzufinden. Der Erwachsene hat prätraumatisch eine feste Ordnung, ein festes inneres Abbild der Umwelt, in das er den Unfall und seine Folgen einordnen kann.
Die Hirnstammkontusion ist keine sichere Entität, meist wird darunter die Kombination fluktuierender fokaler neurologischer Defizite mit Vigilanzschwankungen verstanden. Das zentrale anticholinerge Syndrom (ZAS) ist eher selten, bereitet differenzialdiagnostisch jedoch die meisten Schwierigkeiten. Beweisend ist das Verschwinden der Symptome nach der Gabe von Physostigmin. Klinisch werden zentrale von peripheren Symptomen unterschieden. Ausgelöst wird das ZAS durch eine Blockade zerebraler Muskarin(M)-Cholinrezeptoren. Triggersubstanzen sind viele in der Intensivmedizin (Neuroleptanalgesie!), aber auch der Pädiatrie und Kinderpsychiatrie gebräuchliche Medikamente, z. B. Belladonnaalkaloide, trizyklische Antidepressiva, Neuroleptika oder Antihistaminika.
Bei Überdosierung von Pharmaka mit Bindung an cholinerge Rezeptoren, z. B. trizyklischen Antidepressiva, Antihistaminika oder Neuroleptika, kann es zu einem anticholinergen Syndrom kommen. An apperativer Zusatzdiagnostik ist für den Kinder- und Jugendpsychiater das EEG gewinnbringend. Schwere Allgemeinveränderungen weisen auf eine diffuse axonale Schädigung oder auf schwere Hirnstammkontusionen hin, leichtere Allgemeinveränderungen oder temporale Herde eher auf einen Dämmerzustand. Epilepsietypische Potenziale können für einen (eventuell nichtkonvulsiven) Status sprechen, ausgeprägte Betaaktivität für eine Medikamentenüberdosierung, frontale intermittierende rhythmische Deltaaktivität (FIRDA) für Hirnstammkontusionen. Es ist nicht notwendig, nach einem leichten SHT regelhaft ein EEG durchzuführen.
Fallbeispiel
Ein 11-jähriger Junge wird nach einer Rangelei auf dem Schulhof stationär in die Kinderchirurgie zur Beobachtung aufgenommen. Er habe nach dem Ereignis Kopfschmerzen bekommen und zweimal erbrochen. Eine Bewusstlosigkeit oder eine Amnesie sei nicht aufgetreten. Am Aufnahmetag ist der Junge lediglich schläfrig und verlangsamt. Am Tag nach der Aufnahme kommt es zunächst zu leichten Vigilanzschwankungen, dann imponieren wechselnde Zustände mit Erregung und Angst, gefolgt von Phasen vermehrter Schläfrigkeit. In der durchgeführten Not-CCT kein Blutungsnachweis. Das kinderneuropsychiatrische Konsil erbringt neben dem klinisch führenden hirnorganischen Psychosyndrom eine leichte sensomotorische Hemiparese links. Die angeregte MRT bleibt ohne diagnostischen Gewinn, in der MR-Angiografie stellt sich die rechte A. vertebralis nur schwach dar und bricht dann ab: Verdacht auf traumatische Dissektion, duplexsonografisch bestätigt sich der Befund. In den folgenden Tagen klart der Junge zunächst auf, wird unruhig, ein wenig angstbesetzt. Die sensomotorische Hemiparese bleibt bestehen. Über Gesprächsführung unter Einbeziehung der Eltern ist er gut führbar. Am 5. posttraumatischen Tag wird die MRT wiederholt: Jetzt zeigt sich ein Herd im Thalamusgebiet rechts. Nach Kostaufbau und Mobilisierung wird der Junge in eine Einrichtung zur weiteren Betreuung übernommen. Er ist nun hypermobil, kaum im Bett zu halten, übt Kopfstand im Bett, spricht überstürzt und hastig, hört kaum zu. Nach Meinung der Eltern sei er vor dem Trauma nicht so gewesen. Im neurologischen Befund ist noch eine leichte Unsicherheit im Zeigeversuch links nachweisbar, die Muskeleigenreflexe sind seitengleich, keine Sensibilitätsstörungen, keine Paresen.
Weitere Formen organischer Psychosen
Die verschiedenen Ausprägungen und Ausgestaltungen akut auftretender organischer Psychosen werden heute unter der Kategorie „Delir“ zusammengefasst. Vor allem historisch bedingt werden jedoch weiterhin einige Begriffe verwendet, die besondere Formen organisch psychischer Störungen beschreiben:
- Hirnorganisches Psychosyndrom: Geht mit Bewusstseinsstörungen, Gedächtnisstörungen, Orientierungsstörungen, Ich-Erlebensstörungen, Wahn und Halluzinationen einher. Ursachen sind vielfältige Veränderungen im zentralen Nervensystem, die auf Hirntumore, Schädel-Hirn-Traumata, frühkindliche Hirnschädigungen, Vergiftungen, Infektionen (z. B. Gehirn-/ Hirnhautentzündung), Epilepsie oder Durchblutungsstörungen des Gehirns zurückzuführen sind.
- Delir: Kann im Rahmen von hohem Fieber, bei Vergiftungen, Infektionen oder Flüssigkeitsmangel (Dehydrierung) auftreten.
- Durchgangssyndrom: Sonderfall der akuten organischen Psychose, die zeitlich begrenzt nach operativen Eingriffen auftreten kann. Typische Symptome sind Vergesslichkeit, eine verlangsamte Reaktionsfähigkeit oder Schwindel.
NMDA-Rezeptor-Enzephalitis als Ursache für Psychosen
Ein Fallbeispiel zeigt, dass Psychosen auch durch entzündliche Prozesse im Gehirn verursacht werden können. Bei einer jungen Frau wurde zunächst Schizophrenie diagnostiziert, aber die Therapie mit antipsychotischen Medikamenten war nicht erfolgreich. Erst eine Untersuchung am Universitätsklinikum Freiburg ergab, dass die Patientin an einer NMDA-Rezeptor-Enzephalitis litt, einer Entzündung des Gehirns, die durch Autoantikörper verursacht wurde. Nach einer Behandlung mit Kortison und Immuntherapien konnte die Patientin ihr normales Leben wieder aufnehmen.
Primäre und sekundäre Psychosen
Man unterscheidet zwischen primären und sekundären Psychosen. Primäre Psychosen sind körperlich nicht begründbar, während sekundäre Psychosen auf körperliche Ursachen zurückzuführen sind. Sekundäre Psychosen können akut oder chronisch-progredient verlaufen. Akute sekundäre Psychosen sind in der Regel reversibel, wenn die zugrunde liegende Ursache/Erkrankung rechtzeitig erkannt und behandelt wird.
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