Einleitung
Melatonin, ein Hormon, das hauptsächlich in der Zirbeldrüse produziert wird, spielt eine wichtige Rolle bei der Regulierung des Schlaf-Wach-Zyklus. In den letzten Jahren hat das Interesse an der Verwendung von Melatonin zur Behandlung von Schlafstörungen zugenommen, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. Dieser Artikel beleuchtet die aktuelle Studienlage zum Einsatz von Melatonin bei Epilepsie und gibt orientierende Empfehlungen zur Dosierung, zum Applikationszeitpunkt und zur Behandlungsdauer.
Melatonin: Synthese, Funktion und Regulation
Synthese und Vorstufen
Melatonin wird aus der essenziellen Aminosäure L-Tryptophan gebildet. Nach der Resorption im Darm wird L-Tryptophan an das Trägereiweiß Albumin gebunden und muss die Blut-Hirn-Schranke überwinden. Das Überwinden der Blut-Hirn-Schranke gelingt L-Tryptophan nur, wenn ein relativ straff eingestelltes Konzentrationsverhältnis zwischen L-Tryptophan und den damit konkurrierenden langkettigen neutralen Aminosäuren (LNAA; Leucin, Isoleucin, Tyrosin, Phenylalanin, Valin, Histidin, Threonin und Methionin) vorliegt. Eine Verbesserung der Einschlaflatenz bei Säuglingen wird erreicht, wenn das Konzentrationsverhältnis zwischen L-Tryptophan und den LNAA in industriell hergestellter Säuglingsnahrung an den Goldstandard Muttermilch angepasst wird.
Rolle der Zirbeldrüse und Lichtregulation
Der Zirbeldrüse (Glandula pinealis) ist die chronobiologisch-pulsatile Synthese von Melatonin aus L-Tryptophan vorbehalten. Melatonin stellt einen fotooptischen Gegenspieler zum Vitamin D dar. Während die Synthese von Vitamin D durch UV-Licht gestartet wird, wird die pineale Melatoninsynthese durch das Signal „Licht aus“ (Dunkelheit) initiiert. Dieses Signal wird über die Retina und den Nucleus suprachiasmaticus (SCN) über eine mehrgliedrige Signaltransduktionskette an die Zirbeldrüse übermittelt.
Signaltransduktionsweg und Melatoninrezeptoren
Noradrenalin aktiviert in der Zirbeldrüse eine Gruppe von Enzymen, die für die Umwandlung von L-Tryptophan über die Zwischenstufe Serotonin in Melatonin sorgen. Das evolutionsbiologisch alte Enzym „Timezyme“ (Arylalkylamin-N-acetyltransferase, AANAT) bildet den geschwindigkeitsbestimmenden Schritt. Timezyme ist vor ca. 500 Mio. Jahren zur Synthese von Melatonin als Radikalfänger entstanden, um gegen UV-Strahlung zu schützen. Erst im Laufe der Entwicklung der Vertebraten kam die Funktion von Melatonin als Zeitgeberhormon zur Förderung des Einschlafens hinzu. Inzwischen ist weitgehend geklärt, an welchen Strukturen des Gehirns die Melatoninrezeptoren M1 und M2, die mit der Induktion des „Rapid-eye-movement“(REM)- und des „Non-rapid-eye-movement“(NREM)-Schlafs assoziiert sind, platziert sind.
Melatoninzufuhr bei Säuglingen
Da die Synthese von Noradrenalin im Rahmen der oben genannten Signalübertragung noch nicht ausgereift ist, sind Säuglinge in den ersten 3 Lebensmonaten auf die Zufuhr von Melatonin über die Muttermilch angewiesen. Für Kinder, die nicht gestillt werden, könnte in absehbarer Zeit erstmals eine Formulanahrung in Form einer Chrononutrition mit natürlichem Melatonin ohne externe Melatoninsupplementation, die aus nichtgepoolter Kuhmilch hergestellt wird, zur Verfügung stehen.
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Genetische Faktoren
Zu den Genen, die mit dem „Melatonin-Pathway“ in Verbindung gebracht werden, zählen jene, die für Timezyme, für das vorgeschaltete Enzym zur Synthese von Melatonin aus Serotonin sowie für die Melatoninrezeptoren M1 und M2 kodieren. Mutationen bzw.
Melatonin bei Epilepsie: Studienlage
Übersicht randomisierter kontrollierter Studien
Bisher sind 33 randomisierte kontrollierte Studien (RCT) unterschiedlicher Qualität zu den Effekten oraler Melatoningaben im Vergleich zu Placebo bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 2 bis 18 Jahren verfügbar. Die Studienlage ist heterogen, und die Anzahl der RCT pro Diagnose variiert.
Ergebnisse der Cochrane-Analyse
Internationale Cochrane-Review-Autoren haben die Frage untersucht, ob Melatonin bei Epileptikern die Anfallshäufigkeit senken kann. Dazu wurden klinische Studien betrachtet, in denen eine Vergleichsgruppe zusätzlich zu einem Anti-Epileptikum Melatonin und die andere Gruppe zusätzlich ein Scheinmedikament (Placebo) erhielt. In den Cochrane Review wurden sechs Studien mit insgesamt 125 Teilnehmern - 106 davon unter 18 Jahren - einbezogen. Es wurden zwei Vergleiche berichtet: Melatonin im Vergleich zu Placebo und Melatonin 5 mg im Vergleich zu 10 mg. Die eingeschlossenen Studien lieferten nur wenig verwertbare Information. Nur zwei Studien berichteten die exakte Anzahl der Anfälle; hier kam es zu keiner Veränderung der Anfallshäufigkeit. Zwei Studien erhoben Daten zu Nebenwirkungen. Bei einem Kind, dass Melatonin nahm, wurde eine Verschlechterung von Kopfschmerzen beobachtet. In einer Studie wurde die Lebensqualität erhoben, die jedoch mit zusätzlicher Melatonineinnahme nicht signifikant verbessert wurde. Aufgrund methodischer Schwächen der Studien, ist auch die Qualität der Evidenz gering.
Positive Fallberichte und -serien
Hinweise auf die Wirksamkeit von oralen Melatoningaben wurden in einigen Fallberichten bzw. -serien dokumentiert. Diese betrafen Patienten mit dem Smith-Magenis-Syndrom, blinde Kinder, die Nicht-24-Stunden-Schlaf-Wach-Störung (Non-24) und 2 von 10 Fällen mit „X-linked alpha thalassaemia mental retardation (ATR-X) syndrome“. Jan et al. berichteten über ein 12-jähriges Mädchen mit Asperger-Syndrom, Schlafphasenverschiebung und heftigem Pavor nocturnus, der bereits 2 Tage nach abendlichen Gaben von 5 mg Melatonin für mehrere Monate sistierte.
Keine Hinweise auf Wirksamkeit bei bestimmten Diagnosen
Zu folgenden Diagnosen gibt es bisher keine Hinweise zu Störungen der Melatoninsekretion oder zur Wirksamkeit von Melatoningaben bei Schlafstörungen im Kindes- und Jugendalter: Alpträume, Somnambulismus, Restless-Legs-Syndrom (RLS), „SATB2-associated syndrome“, Potocki-Lupski-Syndrom, Down-Syndrom, Prader-Willi-Syndrom sowie bei Regulationsstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter. Ucuncu Egeli et al. wiesen jedoch kürzlich nach, dass Säuglingskoliken mit verminderten Melatoninkonzentrationen im Schlaf assoziiert sein können.
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Dosierung, Applikationszeitpunkt und Behandlungsdauer
Empfehlungen
Sofern eine der oben genannten Indikationen für einen Behandlungsversuch mit einer oralen Melatoninformulierung vorliegt sowie ärztliche Hinweise zur Schlafhygiene und an kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) orientierte Interventionen keinen Effekt hatten, sollte eine möglichst geringe Melatoninmenge (< 1 mg/Dosis für Erwachsene) gegeben werden. Das heißt, Kinder erhalten je nach Alter und Körpergewicht 0,25-0,5 mg/Dosis eines nichtretardierten Präparats etwa 3-5 h vor dem Zubettgehen. Van Geijlswijk et al. verabreichten in ihrer Dosisfindungsstudie aus dem Jahr 2010 sechs- bis 19-jährigen Kindern und Jugendlichen stufenweise gesteigerte Dosierungen von 0,05-0,25 mg/kgKG (≙ 1,60-4,39 mg/Dosis) im Zeitfenster von 18:00 bis 20:15 Uhr oral.
Effekte und Anpassung
Effekte des Melatonins können z. T. bereits nach den ersten Gaben oder auch erst nach 2 Wochen gesehen werden. Eine zusätzliche Lichttherapie kann diese Effekte verstärken. Deshalb sollten ärztliche Kontrollen und Dosisanpassungen mit Verminderung oder Erhöhung bis zu 1-3-5 mg/Dosis abends erst nach diesem Zeitraum in Betracht gezogen werden. Eine Behandlungszeit von 4 Wochen scheint zu kurz zu sein. Die abendliche Dosis von 3 mg Melatonin wurde in der Untersuchung von van Maanen et al. (2017) bei 10-jährigen Kindern mit „delayed sleep phase syndrome“ (DSPS) und Insomniebeschwerden als zu hoch eingeschätzt, da diese Dosis mit einer Zunahme nächtlicher Wachperioden verbunden war.
Auslassversuche und Behandlungsdauer
Liegen Hinweise auf positive Melatonineffekte vor, sollte nach 6 Monaten Behandlungsdauer ein Auslassversuch von mindestens 2 Wochen erfolgen. Da Daten zu Langzeiteffekten fehlen und Hinweise auf mögliche endokrine Nebenwirkungen u. a. auf den Pubertätseintritt vorliegen, sollte im Kindes- und Jugendalter nicht länger als 6 (bis 12) Monate mit Melatonin behandelt werden.
Einfluss von Melatonin auf pubertätsauslösende Hormone
Regulationsmodell
Innerhalb der Fortpflanzungsfähigkeit scheinen „RFamide-related-peptide-3“(RFRP-3)-Neurone im Hypothalamus eine zentrale Rolle zu spielen. RFamide-related-peptide‑3 ist ein aktueller Begriff für das „gonadotropin-inhibiting hormone“ (GnIH). Die Aktivierung dieser Neurone führt zur Stimulation der präoptischen Region (POA) mit Ausschüttung von „gonadotropin-releasing hormone“ (GnRH) und Stimulation der Hypophyse zur Bildung von Gonadotropinen. Von dort erfolgen Rückkopplungen zu dem erst in den letzten Jahren entdeckten Neuropeptid Kisspeptin, das über eine POA-/GnRH-Stimulation wesentlichen Einfluss auf die Auslösung der Pubertät zu haben scheint. Kisspeptin wird insbesondere im Nucleus arcuatus (ARC) und im anteroventralen periventrikulären Nukleus (AVPV) gebildet. Die beiden Effektoren Vasopressin und das vasoaktive intestinale Peptid (VIP) der Master-Clock, des SCN, wirken hemmend bzw. aktivierend auf die Kisspeptinsynthese im AVPV bzw. auf die RFRP-3-Aktivität. Gleichzeitig stimuliert SCN bei Wegfall des Lichts das Ganglion cervicale superius mit konsekutiver Noradrenalinabgabe an die Zirbeldrüse, in der damit die Melatoninsynthese und -sekretion ausgelöst werden. Melatonin scheint einen direkt supprimierenden Effekt auf die RFRP-3-Neuronen zu haben.
Verfügbare Melatoninpräparate
Individuelle Rezepturen und zugelassene Präparate
Da die oben genannte geringe Dosierung derzeit nur über eine individuell zubereitete Rezeptur außerhalb der Zulassung oder über die in Österreich zugelassenen Melatoninpräparate möglich ist, kann in Deutschland alternativ auf das Retardpräparat ab 1 mg Melatonin ausgewichen werden. Für das in Deutschland und Österreich für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung oder Smith-Magenis-Syndrom ab dem 2. bis 18. Lebensjahr zugelassene Retardpräparat mit 1 mg Melatonin wird durch den Hersteller empfohlen, dass die orale Gabe 30-60 min vor dem Schlafen erfolgen sollte. Es sollte berücksichtigt werden, dass diese Tabletten 8,32 mg Laktose/Tbl. enthalten. Die in Österreich zugelassenen Tropfen enthalten 150 mg/ml Propylenglycol.
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Slenyto®
Slenyto® (retardiertes Melatonin) ist indiziert für die Behandlung von Schlafstörungen (Insomnie) bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 2-18 Jahren mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) und/oder Smith-Magenis-Syndrom (SMS), wenn Schlafhygienemaßnahmen unzureichend waren. Die deutsche Markteinführung war am 15. Januar 2019.
Bewertung von Slenyto®
Slenyto® (retardiertes Melatonin) wurde im Rahmen einer „Paediatric Use Marketing Authorisation“ (PUMA) zugelassen. Der Wirkstoff ist bekannt und bereits für Erwachsene zugelassen. Die vorliegende Zulassung deckt einen „unmet clinical need“, da diesen Patienten bisher unretardiertes Melatonin off-label verschrieben wurde.
Wirksamkeit von Slenyto® in den Zulassungsstudien
Die pivotale Studie ist eine multinationale, multizentrische, randomisierte, doppelblinde, placebokontrollierte Studie. Der primäre Endpunkt war die Gesamtschlafdauer. Sekundäre Endpunkte waren u. a. Schlaflatenz, Häufigkeit nächtlichen Erwachens und Dauer der Wachphasen nach dem Einschlafen. Es wurden insgesamt 125 Kinder mit ASS (n = 121) oder SMS (n = 4) eingeschlossen. Das mittlere Alter war 8,7 (± Standardabweichung 4,15) Jahre, 73,6 % waren Jungen. Es liegen weitere Daten für 79 Patienten vor, welche 39 Wochen eine Open-Label-Behandlung absolvierten. Hier stellten sich sowohl in der Gruppe der Patienten aus dem rM-Arm als auch dem Placebo-Arm ähnliche Veränderungen ein. Ebenfalls verbesserte sich die Tagesmüdigkeit und Lebensqualität der Bezugspersonen.
Sicherheit und Nebenwirkungen
Verträglichkeit
Bisher galt Melatonin bis auf leichte Nebenwirkungen wie z. B. gelegentliche Kopfschmerzen als gut verträglich. Kürzlich ist jedoch im zeitlichen Zusammenhang mit Überdosierungen im 1. und 2.
Ausgewählte Nebenwirkungen von Slenyto®
Etwa 84,2 % der Patienten erlitten Nebenwirkungen während der Studie mit Slenyto®. Diese waren jedoch insgesamt milder Ausprägung. Am häufigsten waren dies Erschöpfung, morgendliche Müdigkeit, Somnolenz, plötzliche Schlafattacken und Kopfschmerzen.
Langzeitsicherheit
Die Langzeitsicherheit der Melatonin-Anwendung bei Kindern ist jedoch bisher nicht umfassend untersucht. Da es am Ende der Pubertät zu einem Abfall der endogenen Melatonin-Produktion kommt, könnte die exogene Melatonin-Zufuhr durch supraphysiologische Plasmakonzentrationen die Pubertät verzögern.
Weitere Wirkungen von Melatonin
Melatonin hat nicht nur chronobiologische Effekte als schlafförderndes Hormon. Zahlreiche weitere Wirkungen beziehen sich auf immunologische Effekte, auf das hypothalamisch-hypophysär-gonadale System, auf die Wachstumshormonachse, die Schilddrüse, die Temperaturregulation, kardiale und mesenteriale Gefäßregulationen, den Augeninnendruck, die Synthese von Glukokortikoiden sowie die Beeinflussung von Redoxpotenzialen.
Melatonin-Gabe bei Kindern: Kontroverse und Risiken
Die Gabe von Melatonin, beispielsweise in Form von Melatonin-Gummibärchen, bei Kindern und Jugendlichen ist in der Fachwelt und darüber hinaus umstritten. Es gibt Hinweise darauf, dass eine chronische Einnahme von Melatonin bei Jugendlichen den Pubertätseintritt beeinflussen kann. Zudem kam es kürzlich in den USA vermehrt zu Todesfällen von Kindern im Alter von 1 bis 2 Jahren, die im zeitlichen Zusammenhang mit Melatonin-Überdosierungen berichtet wurden.
Melatonin-Gabe: Wann ist sie sinnvoll?
Weltweit liegen 33 randomisierte placebokontrollierte Studien zum Einsatz von Melatonin bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 2 bis 18 Jahren vor, die sich auf zwölf klar definierte Diagnosen beziehen. Darunter fallen Einschlafstörungen (allein oder in Verbindung mit dem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom), Autismus-Spektrum-Störungen, krankhafte Verschiebungen der Schlafphasen oder etwa nach Gehirnerschütterungen. Nicht wirksam war Melatonin in Studien hingegen bei Kindern und Jugendlichen mit Dravet-Syndrom, einer schweren, frühkindlichen Epilepsieform.
In Deutschland ist Melatonin nur für Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störung oder Smith-Magenis-Syndrom zugelassen, die an Schlafstörungen leiden.
Alternative Therapien
Dass eine medikamentöse Behandlung nicht immer notwendig ist, zeigen auch Studien, die nachgewiesen haben, dass vorgesungene Schlaflieder bei Säuglingen die Sauerstoffsättigung, die Herzfrequenz und den Blutdruck positiv beeinflussen und somit auch die Schlafqualität verbessern können.