Multiple Sklerose ohne Therapie: Verlauf, Forschung und individuelle Entscheidungen

Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die sich individuell sehr unterschiedlich äußern kann. Bei einigen Patienten schreitet die Erkrankung trotz fehlender oder verzögerter Therapie nicht oder nur langsam voran. Dieser Artikel beleuchtet den Verlauf der MS ohne Therapie, aktuelle Forschungsergebnisse und die Bedeutung individueller Therapieentscheidungen.

Benigne MS: Ein stabiler Verlauf ohne Therapie?

Einige MS-Patienten entwickeln auch ohne Therapie keine schweren Beeinträchtigungen. Zwei Langzeituntersuchungen deuten darauf hin, dass es eine "benigne" MS gibt, bei der die Krankheit über Jahrzehnte nicht oder kaum fortschreitet.

Eine Studie, die auf dem Welt-MS-Kongress in Paris vorgestellt wurde, analysierte die Londoner CIS-Kohorte. Von den 132 Patienten mit einem klinisch isolierten Syndrom (CIS) entwickelten 80 im Laufe der Zeit eine MS nach den 2010er-Kriterien. Dennoch hatten 32 dieser MS-Kranken - also mehr als ein Drittel - auch nach 30 Jahren einen EDSS-Wert von weniger als 3,5 Punkten. Praktisch alle arbeiteten noch ganz- oder halbtags, sofern sie nicht schon das Rentenalter erreicht hatten. Nur drei dieser stabilen Patienten hatten zu irgendeinem Zeitpunkt krankheitsmodifizierende Arzneien genommen.

Eine andere Studie untersuchte über 11.000 MS-Kranke und definierte als benigne MS alle Patienten, die 15 Jahre nach Krankheitsbeginn eine schubförmige MS mit einem EDSS-Wert von 3 Punkten oder weniger hatten. Auch hier zeigte sich, dass die Erkrankung weit langsamer voranschritt als bei Patienten mit nichtbenigner MS.

Faktoren für einen milderen Verlauf

Obwohl sich im Voraus nicht sicher sagen lässt, welche Patienten einen benignen Verlauf entwickeln, gibt es einige Merkmale, die häufiger bei diesen Patienten auftreten:

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  • Jüngeres Alter bei Krankheitsbeginn: Patienten mit benigner MS waren im schwedischen Register zum Krankheitsbeginn deutlich jünger als solche mit nichtbenigner MS (28 versus 34 Jahre).
  • Weibliches Geschlecht: Häufiger weiblich (75 versus 69%).
  • Seltenere Schübe: Weniger Schübe zu Beginn der Erkrankung.
  • Sensorische Probleme im Vordergrund: Beim ersten Schub standen zumeist sensorische Probleme im Vordergrund.

Risiken des Therapieverzichts

Früher, als es noch wenige Behandlungsmöglichkeiten gab, wagten einige Patient*innen bewusst den Verzicht auf Therapien. Doch der natürliche MS-Verlauf ohne Medikamente zeigt, dass dies nicht immer die beste Wahl ist. Studien belegen, dass bereits nach 15 Jahren ohne Therapie ein höherer Behinderungsgrad (EDSS 6) auftreten kann. Schwere Behinderungen (EDSS 8) nach 26 Jahren und Betroffene bei einem EDSS 10 nach 41 Jahren können zum Versterben führen.

Individuelle Therapieentscheidungen

Die Entscheidung für oder gegen eine Therapie ist eine sehr individuelle und persönliche Entscheidung, die sorgfältig abgewogen werden sollte. Vertrauen in den behandelnden Arzt ist entscheidend, denn eine Therapie ohne Vertrauen zeigt in der Regel wenig Erfolg. Gemeinsam mit den Behandlern sollte man nach einem Weg suchen, der bestmöglich zum Ziel führt.

Faktoren, die bei der Therapieentscheidung berücksichtigt werden sollten:

  • Krankheitsaktivität: Aktivität im MRT bedeutet nicht unbedingt, dass die Krankheit sehr aktiv ist. Es ist wichtig, die klinischen Symptome und den Verlauf der Erkrankung zu berücksichtigen.
  • Nebenwirkungen der Medikamente: Viele MS-Medikamente haben Nebenwirkungen, die die Lebensqualität beeinträchtigen können. Diese sollten gegen den potenziellen Nutzen der Therapie abgewogen werden.
  • Individuelle Risikobereitschaft: Manche Patienten sind eher bereit, Risiken einzugehen, um die Krankheit zu kontrollieren, während andere einen vorsichtigeren Ansatz bevorzugen.
  • Alter: Bei älteren Patienten sollte die Therapieentscheidung besonders sorgfältig abgewogen werden, da das Risiko für Nebenwirkungen steigt und die Wirksamkeit der Therapie möglicherweise geringer ist.
  • Komorbiditäten: Begleiterkrankungen wie Depressionen, Angststörungen, Bluthochdruck oder Diabetes können den Verlauf der MS ungünstig beeinflussen und die Therapieentscheidung beeinflussen.

Alternative und ergänzende Behandlungen

Neben der schulmedizinischen Behandlung gibt es auch alternative und ergänzende Behandlungen, die einige Patienten als hilfreich empfinden. Dazu gehören:

  • Ernährung: Eine ausgewogene Ernährung mit viel Gemüse, Obst und gesunden Fetten kann sich positiv auf den Krankheitsverlauf auswirken.
  • Psyche: Stressabbau und psychische Unterstützung können helfen, die Symptome der MS zu bewältigen.
  • Bewegung: Regelmäßige Bewegung kann die körperliche Fitness verbessern und die Symptome lindern.
  • Energierarbeit wie Reiki: Einige Patienten berichten von positiven Erfahrungen mit Energierarbeit zur Stärkung der Selbstheilungskräfte.
  • Enzyme: Einige Patienten haben gute Erfahrungen mit der Einnahme von Enzymen gemacht.

Es ist wichtig zu beachten, dass alternative Behandlungen nicht wissenschaftlich bewiesen sind und die schulmedizinische Behandlung nicht ersetzen können. Sie können jedoch eine sinnvolle Ergänzung sein, um die Lebensqualität zu verbessern.

Die Rolle der Forschung

Die MS-Forschung hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Es gibt immer mehr Medikamente, die den Verlauf der Erkrankung positiv beeinflussen können. Die Forschung konzentriert sich auch auf die Entwicklung von Therapien, die die Ursachen der MS bekämpfen und die Nervenschäden reparieren können.

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Aktuelle Forschungsschwerpunkte:

  • Immunmodulation: Weiterentwicklung von immunmodulatorischen Substanzen, die das Voranschreiten der Behinderung effektiver unterbinden sollen.
  • Rolle von T-Zellen und B-Zellen: Erforschung der Mechanismen der Autoimmunreaktion, um gezieltere Therapien zu entwickeln.
  • Neurofilament (NfL): Suche nach Markern, die den Krankheitsverlauf anzeigen, um die Therapie besser anpassen zu können.
  • Anwendungskomfort: Entwicklung von Medikamenten mit längeren Anwendungsintervallen oder oraler Verabreichung, um die Therapie für die Patienten zu erleichtern.

MS im höheren Lebensalter

Mit steigender Lebenserwartung wächst auch die Zahl der MS-Patienten im fortgeschrittenen Alter. Bei dieser Patientengruppe bestehen besondere Herausforderungen, da das Risiko für Nebenwirkungen der Medikamente steigt und die Wirksamkeit möglicherweise geringer ist. Zudem treten im Alter häufiger Begleiterkrankungen auf, die den Verlauf der MS beeinflussen können.

Besondere Aspekte bei älteren MS-Patienten:

  • Immunseneszenz: Die altersbedingte Veränderung des Immunsystems kann die Wirksamkeit von Immuntherapien beeinträchtigen und das Infektionsrisiko erhöhen.
  • Komorbiditäten: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Depressionen und andere Begleiterkrankungen können den Verlauf der MS ungünstig beeinflussen.
  • Kognitive Defizite: Im Alter nehmen kognitive Defizite häufig zu, was die Lebensqualität beeinträchtigen kann.
  • Motorische Einschränkungen: Motorische Einschränkungen wie Gangstörungen und Blasenfunktionsstörungen können im Alter eine zunehmende Relevanz besitzen.

Therapieentscheidungen im Alter

Bei älteren MS-Patienten sollte die Therapieentscheidung besonders sorgfältig abgewogen werden. Es ist wichtig, die potenziellen Risiken und Vorteile der Therapie zu berücksichtigen und die individuellen Bedürfnisse und Wünsche des Patienten zu berücksichtigen.

  • Therapieabbruch: Bei einem stabilen Krankheitsverlauf über mehrere Jahre kann ein Therapieabbruch in Erwägung gezogen werden, um das Risiko für Nebenwirkungen zu reduzieren.
  • Therapieumstellung: Bei hochaktiven Immuntherapien kann ein Wechsel auf eine Therapieform für den milden/moderaten Verlaufstyp sinnvoll sein.
  • Engmaschiges Monitoring: Nach Beendigung der Immuntherapie ist ein engmaschiges Monitoring mittels klinischer und kernspintomografischer Untersuchungen empfehlenswert.

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