Die Diagnose Multiple Sklerose (MS) ist ein einschneidendes Ereignis. Der Verlauf der MS ist individuell und von verschiedenen Faktoren abhängig. Zum Zeitpunkt der MS-Diagnose kann niemand mit 100%iger Sicherheit vorhersagen, wie sich der MS-Verlauf gestalten wird. Dennoch gibt es einige Aspekte, die helfen können, den Verlauf besser zu verstehen und die Lebensqualität positiv zu beeinflussen.
Die Bedeutung einer frühen Diagnose und Therapie
Die MS beginnt meistens zwischen dem 20. und 35. Lebensjahr. Deshalb sollte bei entsprechenden Beschwerden eine vollständige Abklärung erfolgen. Diese beinhaltet neurologische Untersuchungen wie Messungen der Nervenleitgeschwindigkeit, eine Nervenwasseruntersuchung bis hin zur Kernspintomografie. Diese Befunde ermöglichen die Diagnose einer MS und den Ausschluss anderer Erkrankungen, die auch psychischer Natur sein können.
Früher wagten einige Patient*innen bewusst den Verzicht auf Therapien, als es noch wenige Behandlungsmöglichkeiten gab. Doch der natürliche MS-Verlauf ohne Medikamente zeigt, dass dies nicht immer die beste Wahl ist. Studien belegen, dass bereits nach 15 Jahren ohne Therapie ein höherer Behinderungsgrad (EDSS 6 - engl.: Expanded Disability Status Scale) auftreten kann. Schwere Behinderungen (EDSS 8) nach 26 Jahren und Betroffene bei einem EDSS 10 nach 41 Jahren versterben. Nach dem, was wir wissen, trifft das für den schubförmigen Verlauf zu - wahrscheinlich weil die Entzündungsaktivität in den ersten Jahren am stärksten ist. Je früher wir mit der Immuntherapie anfangen, umso mehr wird der Entzündungsprozess gebremst. Die chronische Entzündung klingt über die Jahre ab, verbleibt aber auf niedrigem Niveau. So geht die Erkrankung in einen langsamen, aber kontinuierlich fortschreitenden Verlauf über.
Individuelle Faktoren und Risikofaktoren
Die Entscheidung für eine Behandlung steht das persönliche Wohlbefinden im Mittelpunkt. Vertrauen in den behandelnden Arzt ist entscheidend, denn eine Therapie ohne Vertrauen zeigt in der Regel wenig Erfolg. Gemeinsam mit den Behandlern sitzt man in einem Boot, möchte die Erkrankung bewältigen und einen Weg finden, der bestmöglich zum Ziel führt.
Der Krankheitsverlauf ist leider nicht genau vorhersagbar. Bei Patienten, die an einer schubförmig verlaufenden MS erkrankt sind und sich nach zwei Jahren Therapie stabilisiert haben, trauen wir uns mittlerweile, eine Prognose abzugeben. Es gibt ganz unterschiedliche Verläufe in ein und derselben Familie, ohne dass wir es gut erklären können.
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Bereits zurückliegende Daten haben gezeigt, dass das Geschlecht einen gewissen Einfluss auf den MS-Verlauf haben kann. Statistisch gesehen neigen Männer dazu, schneller in die Phase der chronischen Progression überzugehen, in der sich die Symptome allmählich verschlechtern. Das bedeutet jedoch nicht, dass dies für jeden Mann mit MS gilt. Früh auftretende motorische Probleme wie Lähmungen, Gangstörungen oder Spastiken deuten darauf hin, dass die MS möglicherweise aggressiver verläuft. Auch die Anzahl der Schübe in den ersten Jahren nach der Diagnose kann ebenfalls einen Hinweis darauf geben, wie die MS fortschreiten wird. Studien zeigen, dass mehr als drei Schübe in den ersten beiden Jahren die Wahrscheinlichkeit einer späteren Verschlechterung erhöhen. Ein besonderer Fokus liegt auf Schüben, die durch Entzündungen im Gehirn oder Rückenmark entstehen. Spinale Schübe können aufgrund der Struktur des Rückenmarks langfristig ungünstige Narben hinterlassen.
Umweltfaktoren spielen eine entscheidende Rolle bei der Entstehung und dem Verlauf von MS. Ein wichtiger Faktor ist Vitamin D. Studiendaten zeigen, dass ein höherer Vitamin-D-Spiegel mit einem geringeren Risiko für eine Multiple Sklerose einhergeht. Daher wird empfohlen, Vitamin-D zu supplementieren. Ein weiterer bedeutender Umweltfaktor ist das Rauchen. Nikotinkonsum erhöht das Risiko von Schüben. Ist die Entzündung noch nicht gestillt, kann es schnell zu einem zweiten Schub-Ereignis kommen und damit auch die Konversion zu MS. Rauchen kann durch seine Toxine Gefäßschäden verursachen, wodurch Entzündungen ins Gehirn einwandern können.
In den letzten Jahren hat das Verständnis für Komorbiditäten im Zusammenhang mit MS zugenommen. Hierbei handelt es sich um Begleiterkrankungen, die zusätzlich zur Multiplen Sklerose auftreten können. Wir wissen bereits, dass Depressionen und Angststörungen bei MS häufiger vorkommen. Gerade im hohen Alter kommt es bei diesen Komorbiditäten zu einer eher ungünstigen Prognose, da es bei Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen und Diabetes zu Gefäßschädigungen kommt - zusätzlich zur MS. So kann sich das Ganze potenzieren.
Bildgebung und Biomarker
Die Magnetresonanztomographie (MRT) spielt eine entscheidende Rolle bei der Prognose von MS. Die Untersuchungen zeigen Läsionen und Entzündungen im Gehirn. Besonders problematisch sind Läsionen in strategisch ungünstigen Bereichen wie dem Hirnstamm oder dem Rückenmark. Auch Läsionen im Kleinhirn, das unter anderem für die Koordination und Standstabilität zuständig ist, können sich ungünstig auf Entzündungen auswirken. Die Anzahl und Lage der Läsionen, insbesondere schwarze Flecke (Black Holes), können Aufschluss über den Schweregrad der Erkrankung geben. Diese schwarzen Löcher entstehen nur dann, wenn der Nervenschaden oder der Schaden an den Nervenbahnen so stark ist, dass eine Narbe entstanden ist. Je mehr dieser Black Holes bereits am Anfang der Diagnose vorhanden sind, desto ungünstiger die Prognose bzw. Zur Kontrolle und auch für eine Prognoseabschätzung erfordert es einen klaren Ausgangspunkt. MRT-Aufnahmen von Kopf und Rückenmark, bieten einen umfassenden Überblick über die Krankheitsaktivität. Wurden in den letzten 5 Jahren keine MRT-Aufnahmen mehr erstellt oder gibt es neue unerklärliche Symptome ist eine Aufnahme mit Kontrastmittel empfehlenswert.
Die Suche nach Markern, die den Krankheitsverlauf anzeigen, ist ein aktueller Forschungsschwerpunkt. Neurofilament (NfL), ein Protein und Bestandteil der Axone (Nervenbahnen), könnte ein vielversprechender Marker sein. Es wird freigesetzt, wenn Nervenzellen geschädigt werden, und könnte Hinweise auf die Aktivität der Erkrankung geben. Das NfL ist nicht MS-spezifisch, sondern kann auch bei einem Schlaganfall erhöht sein und kann im Blut nachgewiesen werden.
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Therapieansätze und ihre Bedeutung
Mittlerweile gibt es immer mehr Wirkstoffe in der MS Therapie, was eine individuelle Therapie ermöglicht. Außerdem gibt es hochwirksame Behandlungen, die schon sehr früh eingesetzt werden können, um die Prognose von MS positiv zu beeinflussen. Studien aus der USA und den Niederlanden zeigen, dass das abrupte Beenden der Therapie zu einem Wiederauftreten der Krankheitsaktivität führen kann.
Mit Hilfe einer Mischung aus klinischen Scores, klinischen Befunden, MRT-Aufnahmen und mit Unterstützung von Tests, wie dem T25FW (Timed 25-Foot Walk) zur Analyse der Gehfähigkeit und dem 9HPT (9-Hole Peg Test) zur Einschätzung der Handfunktion, könnte es gelingen zukünftig den Krankheitsverlauf besser abzuschätzen. Auch sollten mehr Patient Report Outcomes (PRO), der Therapieerfolg, der durch den Patienten selbst dokumentiert wird, mit einbezogen werden.
Verlaufsformen der MS
Es gibt typische Verlaufsformen der Multiplen Sklerose, wie die Erkrankung aber konkret verläuft, ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Individuelle, variable MS-Verläufe mit unsicherer Prognose sind ein fester Bestandteil des Krankheitsbilds.
- Schubförmig-remittierende MS (RRMS): Bei der RRMS treten bei Schüben krankheitstypische Symptome auf, die sich nach dem Schub wieder komplett oder teilweise zurückbilden können. Die Schübe treten in unregelmäßigen Abständen auf.
- Sekundär progrediente MS (SPMS): Bei vielen Betroffenen geht die schubförmige MS nach längerem schubförmigem Verlauf in eine sekundär progrediente Verlaufsform (SPMS) über. Bei der SPMS erfolgt die Rückbildung der Symptome nach dem Schub nur noch unvollständig und es kommt zunehmend zu Einschränkungen. Schließlich treten kaum noch Schübe auf und es kommt zu einer progredienten, d. h.
- Primär progrediente MS (PPMS): Bei der primär progredienten Verlaufsform (PPMS) treten keine Schübe auf, auch nicht zu Beginn der Krankheit.
Zu Krankheitsbeginn überwiegt der schubförmige Verlaufstyp mit einer Häufigkeit von bis zu 90%; nach anfänglich schubförmigem Verlauf gehen nach 10 bis 15 Jahren etwa 30 bis 40% in einen sekundär-chronisch progredienten Verlauf über; nach mehr als 20 Jahren beträgt die Häufigkeit dieser Verlaufsform sogar bis zu 90%. Etwa 10% der Patienten haben von Beginn an einen primär-chronisch progredienten Verlauf, d.h. von Beginn an eine langsame Verschlechterung ohne klare Schübe.
Leben mit MS: Bewältigungsstrategien und Unterstützung
Mit Multipler Sklerose zu leben ist nicht einfach. Die Ungewissheit, ob und wann erneut ein Schub auftritt, ist sehr verunsichernd und kann Angst machen. Wer beispielsweise Schwierigkeiten beim Laufen hat, dem fällt Radfahren vielleicht leichter. Um so lange wie möglich selbstständig zu bleiben, können Sie Ihr Zuhause barrierearm umbauen und erhalten dafür, wenn Sie einen Pflegegrad haben, Zuschüsse von der Pflegekasse. Ein Treppenlift oder die Badewanne zur barrierefreien Dusche umzubauen sind tolle Möglichkeiten, das Leben bei körperlicher Beeinträchtigung zu erleichtern.
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Mit MS hat man keine Einschränkungen bei der Ernährung oder beim Sport. Es gibt keine spezielle Diät, sondern nur die Empfehlung, sich gesund und ausgewogen zu ernähren. Allerdings sollte Vitamin D, gegebenenfalls auch als Zusatzpräparat, zur Ernährung gehören, da dies zur Verminderung von MS-Schüben führen kann. Vitamin D wird auch vom Körper selbst gebildet, wenn er Sonnenlicht aufnimmt. Bewegung an der frischen Luft oder ein Outdoor-Sport sind dann sogar doppelt gesund. Beim Sport ist Betroffenen keine Grenze gesetzt. Schwimmen und Gymnastik sind gut geeignet, aber generell ist jede Sportart möglich. Durch die Körpererhitzung bei der sportlichen Betätigung kann es zu einer temporären Verschlimmerung der Symptome kommen, die Krankheit selbst verschlimmert sich aber nicht.
Es gibt einige Selbsthilfegruppen für Menschen, die an Multipler Sklerose erkrankt sind. Die Gruppen geben den Betroffenen Halt und ermöglichen den Austausch untereinander. Die Multiple Sklerose ist zwar eine schwere Krankheit, der Verlauf lässt sich jedoch mit Hilfe von modernen Therapiemöglichkeiten und nicht zuletzt der Unterstützung durch das soziale Umfeld des Patienten lange herauszögern und verbessern. Die konsequente Behandlung psychiatrischer Begleiterkrankungen wie Depressionen oder chronische Erschöpfungszustände verbessern die Lebensqualität entscheidend.
Positive Grundeinstellung, psychische Gesundheit, Austausch mit Erfahrenen, Selbstfürsorge und fachliche Unterstützung sind wichtige Komponenten im Umgang mit der Angst vor der Zukunft mit Multipler Sklerose.