Die Diagnose Multiple Sklerose (MS) ist oft ein Schock für Betroffene und Angehörige. Die Komplexität der MS-Therapie und die Tatsache, dass sie für jeden Betroffenen individuell angepasst werden muss, können überwältigend sein. Dieser Artikel bietet einen grundlegenden Überblick über die verschiedenen Therapieansätze, insbesondere die Rolle der Physiotherapie, um Aktivität und Lebensqualität zu erhalten.
Multiple Sklerose: Eine Krankheit mit vielen Gesichtern
Multiple Sklerose ist eine chronische Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems, bei der sich Nervenstrukturen entzünden. Mehr als eine Viertelmillion Menschen leben in Deutschland mit der Erkrankung. Die Erkrankung manifestiert sich bei jedem Betroffenen anders, was ihr den Namen "Krankheit mit den 1000 Gesichtern" eingebracht hat. Zu den häufigsten Symptomen gehören Sensibilitätsstörungen, Muskelschwäche, Koordinationsprobleme, Sehstörungen, Schwindel und Fatigue (große Erschöpfung).
Fachleute unterscheiden verschiedene Verlaufsformen der Multiplen Sklerose nach dem Auftreten von Krankheitsschüben und der Geschwindigkeit des Verlaufs der Erkrankung. Die überwiegende Anzahl von MS-Erkrankungen beginnt schubförmig und geht nach einiger Zeit in eine progressive, also kontinuierlich voranschreitende, Form über. Bei einigen Betroffenen beginnt die Erkrankung direkt kontinuierlich. Andere erleiden im Laufe ihres Lebens nur einen einzelnen Krankheitsschub, dessen Symptome sich nahezu vollständig zurückbilden.
Säulen der MS-Therapie
Die Behandlung der Multiplen Sklerose basiert auf drei Säulen:
- Schubtherapie: Behandlung akuter Krankheitsschübe, um Symptome zu lindern und bleibende Schäden zu minimieren. Das klassische Medikament in der MS Schubtherapie ist Cortison. Dies wirkt stark entzündungshemmend und wird während eines akuten Schubes in hoher Dosierung für wenige Tage verabreicht. Meist erfolgt die Gabe intravenös als Infusionstherapie im Krankenhaus. Ein häufig verwendeter Wirkstoff ist zum Beispiel Methylprednisolon. Aufgrund von Nebenwirkungen sollte Cortison nur so kurz wie möglich, aber so hoch dosiert und so lange wie nötig, verabreicht werden.
- Verlaufsmodifizierende Therapie: Langfristige Medikamenteneinnahme, um das Fortschreiten der Erkrankung zu verlangsamen oder zu verhindern. Im Rahmen der verlaufsmodifizierenden Therapie werden sogenannte Immunmodulatoren eingesetzt. Sie beeinflussen Teile des Immunsystems und haben so das Ziel, die chronische Entzündung auf das Nervensystem zu verringern, sodass möglichst lange möglichst wenig bleibende Schäden entstehen. Häufig eingesetzte Mittel sind sogenannte Beta-Interferone, Fumarsäure und Glatirameracetat.
- Symptomatische Therapie: Behandlung spezifischer Symptome, um die Lebensqualität zu verbessern. Zur symptomatischen Therapie gehören zum Beispiel Physiotherapie und Medikamente zur Verringerung von spastischen Muskelverkrampfungen, Logopädie, Psychotherapie und die Versorgung mit Hilfsmitteln wie Gehstützen oder einem Rollstuhl.
Die Rolle der Physiotherapie in der MS-Behandlung
Physiotherapie ist ein wesentlicher Bestandteil der symptomatischen Therapie bei Multipler Sklerose. Sie zielt darauf ab, die körperliche Leistungsfähigkeit zu erhalten oder zu verbessern, die Beweglichkeit zu fördern, Schmerzen zu reduzieren und die Lebensqualität zu steigern.
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Ziele der Physiotherapie:
- Verbesserung der Körperhaltung und Bewegungsabläufe
- Förderung der Mobilität und Selbstständigkeit im Alltag
- Reduktion von Spastik und Schmerzen
- Verbesserung des Gleichgewichts und der Koordination
- Erhalt der Gehfähigkeit
- Steigerung der Muskelkraft und Ausdauer
- Hilfe bei Fatigue
Methoden der Physiotherapie:
Die Physiotherapie bei MS umfasst eine Vielzahl von Techniken und Ansätzen, die individuell auf die Bedürfnisse des Patienten abgestimmt werden. Dazu gehören:
- Krankengymnastik: Gezielte Übungen zur Verbesserung von Kraft, Ausdauer, Koordination und Gleichgewicht. Grundlage der Behandlungen sind dabei anerkannte Techniken, zum Beispiel nach Bobath, Vojta und Brunkow oder die propriozeptive neuromuskuläre Fazilitation (PNF) nach Kabat.
- Manuelle Therapie: Mobilisierende Behandlungstechniken für Gelenke, Muskeln und Sehnen, um einen qualitativeren Bewegungsfluss zu ermöglichen.
- Physikalische Therapie: Anwendung von Wärme, Kälte, Massage oder Wasser zur Schmerzlinderung und Muskelentspannung. Unter dem Begriff physikalische Therapie werden verschiedene Behandlungen zusammengefasst.Gemeinsames Ziel ist es, Schmerzen zu verringern und die Muskelspannung zu regulieren.
- Bewegungstherapie: Sportarten wie Ergometertraining, Wandern, Nordic Walking, Schwimmen und Bogenschießen zur Verbesserung von Ausdauer, Kraft und Beweglichkeit. Vor allem Fatigue kann durch regelmäßiges körperliches Training verringert werden.
- Hippotherapie: Physiotherapeutische Behandlung auf neurophysiologischer Basis mit und auf dem Pferd. Die dreidimensionalen Bewegungen des Tieres übertragen sich auf den Patienten und lösen Impulse aus, die die Haltung und das Gleichgewicht trainieren sowie die Muskelspannung regulieren.
- Funktionstraining: Training in der Gruppe mit bewegungstherapeutischen Übungen, das regelmäßig unter fachkundiger Leitung stattfindet. Dabei wird zwischen Trockengymnastik (Bewegung im Raum) und Wassergymnastik unterschieden.
- Ergotherapie: Trainiert zielgerichtet, individuell und symptomorientiert die Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL = Activity of Daily Living): Waschen, Ankleiden, Toilettengänge, Essen und Trinken, Schreiben, Arbeiten im Haushalt.
Spezielle Therapieansätze:
- Bobath-Konzept: Fördert physiologische Bewegungsmuster und reduziert Kompensationsmechanismen. Dieses Konzept basiert auf der Erarbeitung physiologischer Bewegungsmuster.
- PNF (Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation): Verbessert das Zusammenspiel zwischen Muskeln, Nerven und Rezeptoren. Bei dieser soll das dreidimensionales Zusammenspiel zwischen Muskeln, Nerven & Rezeptoren verbessert werden.
- NAP (Neuromuskuläre arthroossäre Plastizität): Nutzt Muskel-, Gelenk- und Sehnenrezeptoren, um mit funktionaler Aktivität eine Anpassung der Körperstrukturen zu fördern.
- Neurac (neuromuskuläre Aktivierung): Unterstützt die muskuläre Kontrolle und trägt zur Schmerzlinderung bei.
- Reflektorische Atemtherapie: Behandelt ganzheitlich mit heißen Kompressen, manuellen Techniken und diversen Übungen.
Hilfsmittel:
Physiotherapeuten können auch bei der Auswahl und Anpassung von Hilfsmitteln beraten, die den Alltag erleichtern, wie z.B. Gehstöcke, Rollatoren oder Rollstühle.
Alltagstaugliche Übungen:
- Balance-Haltung: In Schrittstellung stehen und die Position so lange wie möglich halten, um das Gleichgewicht zu trainieren.
- Stehende Liegestütze: Vor einer Arbeitsplatte stehen, Hände auflegen und den Oberkörper in Richtung Hände beugen, um die Rumpfstabilität zu stärken.
- Zehenstand: Langsam mit den Fersen vom Boden abdrücken, bis man auf den Zehen steht, um die Wadenmuskulatur zu kräftigen.
- Wechselseitige Armschere: Im hüftbreiten Stand vor einer Küchenzeile eine Hand auf der Arbeitsplatte, die andere am Schrank abstützen und die Arme wechselseitig bewegen, um die Koordination zu verbessern.
Tipps für ein erfolgreiches Training:
- Regelmäßigkeit: Bereits zwei Mal 20 bis 30 Minuten Training pro Woche können deutliche Verbesserungen bewirken.
- Individuelle Anpassung: Das Training sollte stets an die persönliche Situation und den individuellen MS-Verlauf angepasst werden.
- Körperwahrnehmung: Auf die Signale des Körpers hören und Überanstrengung vermeiden.
- Sporttagebuch: Führen eines Sporttagebuchs, um Zusammenhänge zwischen Training und Leistungsschwankungen zu erkennen.
- Motivation: Sich konkrete Belohnungen setzen, um die Motivation aufrechtzuerhalten.
- Professionelle Begleitung: Zusammenarbeit mit einem erfahrenen Physiotherapeuten, der sich auf MS spezialisiert hat.
Weitere Therapieansätze:
Neben der Physiotherapie gibt es weitere Therapieansätze, die bei Multipler Sklerose eingesetzt werden können:
- Logopädie: Behandlung von Sprech- und Schluckstörungen. Sprech- und Schluckstörungen (sowie die bei MS seltenen Sprachstörungen) werden im Rahmen der Logopädie mit wissenschaftlich fundierten Methoden behandelt. Dies geschieht in der Regel in Einzeltherapie.
- Psychotherapie: Unterstützung bei der Krankheitsbewältigung und der Entwicklung einer realistischen Lebensperspektive. Die psychologische Behandlung zielt vor allem darauf ab, gemeinsam mit dem Betroffenen schrittweise einen Weg zu finden, der eine Brücke zwischen den durch MS verursachten Schwierigkeiten auf der einen Seite sowie den persönlichen Lebenszielen auf der anderen Seite schlagen kann.
- Neuropsychologie: Behandlung kognitiver Probleme und Förderung der Wiedereingliederung in das Erwerbsleben.
- Ernährung: Eine gesunde Ernährung kann das Immunsystem unterstützen und das Wohlbefinden verbessern.
- Selbsthilfegruppen: Austausch mit anderen Betroffenen und gegenseitige Unterstützung.
Paroxysmale Symptome:
Paroxysmale Symptome sind überfallartig auftretende, kurzzeitige Beschwerden wie einschießende Schmerzen, plötzliche Gefühls-, Sprech- oder Bewegungsstörungen. Sie werden durch verschiedene Reize ausgelöst oder entstehen spontan. Die Therapie zielt auf die Vermeidung der Symptome und die Steigerung der Lebensqualität. Nicht-medikamentöse Maßnahmen wie das Führen eines Tagebuchs zur Identifizierung von Auslösern und die Meidung von Wärme bei einem Uhthoff-Phänomen können hilfreich sein. Medikamentös werden Antiepileptika eingesetzt.
Ataxie und Tremor:
Die MS-bedingte Ataxie bezeichnet Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen. Tremor ist eine Form ataktischer Bewegungsstörungen und bezeichnet das gleichmäßige Zittern eines Körperteils oder des gesamten Körpers. Die Therapie zielt auf die Verbesserung der Feinmotorik, den Erhalt der Gehfähigkeit und die Linderung des Tremors. Neben intensiver Physiotherapie und Ergotherapie können Entspannungstechniken und Hilfsmittel den Alltag erleichtern. Medikamente sind oft wenig hilfreich und mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden, neueste Ergebnisse zeigen sehr gute Erfolge von Topiramat.
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Blasenstörungen:
Neurogene Blasenstörungen sind häufige Begleiterscheinungen der MS. Sie lassen sich in Detrusor-Hyperreflexie (überaktive Blase), Blasen-Hyporeflexie und Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie unterteilen. Die Therapie zielt auf die Verbesserung der Speicherfunktion der Blase, ihre vollständige Entleerung, die Normalisierung des Harndrangs und die Vermeidung von Komplikationen. Nicht-medikamentöse Maßnahmen wie regelmäßiges Trinken, Toilettengänge und Beckenbodengymnastik können hilfreich sein. Medikamentös werden Anticholinergika, Alphablocker, Antispastika und Desmopressin eingesetzt.
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