Die Stimulation des Vagusnervs erfreut sich wachsender Beliebtheit. Doch ist dieser Hype gerechtfertigt? Professor Kroemer bestätigt das große Potenzial der Vagusnervstimulation. Der Vagusnerv, eine Art "Datenautobahn" im Körper, übermittelt wichtige Informationen von Organen und Systemen an das Gehirn und den Hirnstamm. Diese Verbindung zu verstärken oder zu hemmen, kann bei bestimmten Symptomen oder Erkrankungen sinnvoll sein.
Was ist der Vagusnerv?
Der Vagusnerv ist einer von zwölf Hirnnerven, der sich durch seine weitreichenden Verbindungen auszeichnet. Er verbindet unter anderem den Verdauungstrakt, die Lunge und das Herz mit dem Gehirn. Über ihn erhält das Gehirn Informationen über den Zustand der Organe und kann so das passende Verhalten auswählen, beispielsweise essen bei Hunger oder das Immunsystem bei Krankheiten aktivieren.
Vagusnervstimulation: Entspannung und Stressabbau?
Die Aktivierung des Vagusnervs kann grundsätzlich bei der Entspannung helfen und den Parasympathikus aktivieren. Dieser Teil des vegetativen Nervensystems steuert unbewusste Körperfunktionen, die für Erholung und Regeneration wichtig sind und ist der Gegenspieler des Sympathikus, der den Körper in Stresssituationen aktiviert. In unserem oft stressigen Alltag ist der Sympathikus häufig stärker aktiviert als der Parasympathikus.
Die Wirkung der Vagusnervstimulation hängt jedoch vom gesundheitlichen Zustand und der jeweiligen Situation ab. Bei Hunger kann die Stimulation eher aktivierend wirken und die Motivation steigern, während sie nach dem Essen eher die Verdauung verstärkt. Eine pauschale Aussage, dass die Stimulation immer die Entspannung fördert, wäre also falsch.
Studien zur Vagusnervstimulation
Aktuell laufen Studien, die die Vagusnerv-Stimulation zur verbesserten Erholung nach Anstrengung bei Personen mit Long/Post COVID untersuchen. Dabei wird gemessen, ob sich durch die selbstständige Anwendung der nicht-invasiven Stimulation des Vagusnervs am Ohr die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit verbessert.
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Eine weitere Studie untersucht die Vagusnerv-Stimulation zur Behandlung von körperlichen Symptomen bei Depressionen. Hier wird die Wirkung der Stimulation auf das Gehirn und den Magen gemessen.
Anwendungsgebiete der Vagusnervstimulation
Am Uniklinikum Tübingen wird die Vagusnervstimulation in Studien mit einer elektronischen Stimulation über das Ohr erforscht. In einigen Studien wird die Stimulation mit einem funktionellen MRT kombiniert, um die Aktivität des Gehirns in Echtzeit sichtbar zu machen.
Aktuell geht man davon aus, dass die professionelle Vagusnervstimulation Personen helfen kann, die unter Antriebslosigkeit, Depressionen, Epilepsie oder Störungen im Stoffwechsel oder der Verdauung leiden. Auch bei Trägheit oder Fatigue könnte die Stimulation helfen, da sie die Informationsweiterleitung im Körper wieder ins Gleichgewicht bringen kann.
Übungen zur Vagusnervstimulation für Zuhause
Es gibt verschiedene Übungen, die man zu Hause durchführen kann, um den Vagusnerv zu stimulieren.
Atemübungen
Kontrollierte Atemübungen wie tiefes Atmen oder progressive Muskelentspannung wirken nachweislich entspannend. In Kombination mit einer Vagusnervstimulation kann die Wirkung besonders gut sein. Auch die Boxatmung oder eine verlängerte Ausatmung können die Entspannung fördern.
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Mechanische Stimulation
Wie gut die mechanische Stimulation, zum Beispiel Massagen am Hals, das Bienensummen oder Gurgeln die Entspannung fördert, ist unklar. Es gibt bisher wenige überzeugende Studien zur mechanischen Stimulation, was aber nicht heißen muss, dass man Übungen im Selbstversuch nicht einfach mal ausprobieren kann. Jede Person reagiert anders darauf.
Massagen am Körper oder vibrierende Steine auf der Brust aktivieren den Vagusnerv dagegen nicht direkt, da die Fasern des Nervs nur an der Oberfläche von Hals und Ohr entlanglaufen.
Weitere Übungen
- Selbstmassage: Seitlich beide Handflächen außen an den Hals legen und mit sanften Bewegungen zwischen Ohr und Schulterübergang kreisend über die Haut streichen.
- Kopf drehen: Den Kopf einmal langsam nach links drehen, mit den Augen etwas in nächster Nähe fixieren. Dann den Kopf langsam nach rechts drehen, ebenfalls kurz einen Gegenstand mit den Augen scharf stellen.
- Augenbrauen heben: Die Augenbrauen heben und dabei die Ohren bewegen.
- Gurgeln: Ja, richtig gelesen.
- Singen: Singen Sie Ihre Lieblingslieder. Und Lieder, die vor allem Vokale wie A, O und U enthalten.
- Kältereize setzen: Wer wach und gleichzeitig gelassen in den Tag starten möchte, kann es mit einer kurzen kalten Dusche am Morgen probieren.
- Akkommodieren: Mit dieser Übung trainieren Sie Ihre Augenmuskeln und regen gleichzeitig den Vagusnerv an.
- Box-Breathing: Auch als Vier-Quadrat-Atmung bekannt (Einatmen (4 Sekunden), Luft anhalten (4 Sekunden), Ausatmen (4 Sekunden), Luft anhalten (4 Sekunden)).
- Akupressur: Für eine Selbst-Akupressur den Punkt in der Ohrmuschel, der mit dem Vagusnerv in Verbindung steht, 30 Sekunden drücken und wieder loslassen. Mehrmals wiederholen.
- Ausgleich mit Lavendel: Ätherisches Lavendelöl hilft in stressigen Zeiten, abzuschalten.
Freiverkäufliche Systeme zur Stimulation
Im Internet werden freiverkäufliche Systeme mit großen Versprechen beworben, allerdings gibt es keine nennenswerten Studien zur Wirksamkeit vieler Geräte. Viele Firmen investieren mehr Geld ins Marketing als in die Forschung. Viele Geräte sind nicht gefährlich, aber auch nicht als Medizinprodukte zur wirksamen Behandlung zertifiziert. Eine Garantie, dass sie den Vagusnerv tatsächlich stimulieren und eine therapeutische Wirkung haben, gibt es somit nicht. Bei Herz- oder Kreislaufproblemen oder in der Schwangerschaft sollten alle Geräte nicht ohne ärztliche Rücksprache angewendet werden.
Einige Systeme nutzen elektrische Impulse, die über die Haut abgegeben werden und darunterliegende Nerven stimulieren. Neu ist eher die Elektrode, die den richtigen Punkt am Ohr stimuliert. Manche Firmen setzen allerdings auf einfache und günstige Clip-Elektroden, die sich nur ungenügend am Ohr anbringen lassen und vermutlich nicht immer den Vagusnerv stimulieren. Andere Geräte nutzen mechanische Stimulation. Ob so der Vagusnerv tatsächlich stimuliert wird, hängt auch vom individuellen Verlauf des Vagusnervs ab.
Professionelle Vagusnervstimulation am Uniklinikum Tübingen
Die professionelle Vagusnervstimulation gilt bisher als experimentelles Verfahren und wird deshalb am Uniklinikum Tübingen nur in Studien angeboten. Wenn von Ärzten dargelegt werden kann, dass die Stimulation bei einem Patienten sinnvoll ist, kann man das Gerät, das am Uniklinikum genutzt wird, auch kaufen und einen Zuschuss über die Kranken- oder Rentenversicherung beantragen. Damit die Vagusnervstimulation auch außerhalb von Studien angewendet werden kann, muss in weiteren klinischen Studien gezeigt werden, dass sie zusätzlich zur Standardbehandlung wirksam sein kann und auch besser als ein „Placebo“ wirkt.
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